Rezension über:

Jan Markert: Wilhelm I. Vom "Kartätschenprinz" zum Reichsgründer (= Elitenwandel in der Moderne; Bd. 25), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2025, XII + 768 S., ISBN 978-3-11-132358-9, EUR 49,95
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Frederik Frank Sterkenburgh: Wilhelm I as German Emperor. Staging the Kaiser (= Palgrave Studies in Modern Monarchy), Cham: Palgrave Macmillan 2024, xiv + 343 S., e-book, ISBN 978-3-031-74205-7, EUR 117,69
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Susanne Bauer: Die Briefkommunikation der Kaiserin Augusta (1811-1890). Briefpraxis, Briefnetzwerk, Handlungsspielräume (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 60), Berlin: Duncker & Humblot 2024, 448 S., ISBN 978-3-428-19092-8, EUR 99,90
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Der deutsche Nationalstaat als monarchisches Projekt. Wilhelm I. und Augusta (Rezension), in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/39652.html


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Der deutsche Nationalstaat als monarchisches Projekt. Wilhelm I. und Augusta

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Jahrhundert der Monarchie hat man das neunzehnte genannt. In den meisten Staaten Europas hat sie alle politischen und gesellschaftlichen Umbrüche seit der Französischen Revolution überstanden, alle neuen Staaten erhielten ein gekröntes Haupt. Mit den beiden Hauptformen staatlicher Macht, Imperium und Nationalstaat, hat sie sich als Institution verbündet, Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung lernte sie zu ertragen, zu steuern und zu begrenzen, Demokratisierung hinzunehmen fiel ihr schwer. Ungeachtet aller Beharrungskräfte, die von ihr ausgingen oder in ihr Rückhalt fanden, war sie fähig, sich zu wandeln. Die Institution Monarchie behauptete sich, weil sie sich änderte. Die Fähigkeit und Bereitschaft dazu waren in den Staaten Europas unterschiedlich angelegt. Wie diese Selbstbehauptung durch begrenzten Wandel in Preußen-Deutschland geschah und welche Bedeutung dabei Wilhelm I. und seiner Gemahlin Augusta zukam, zeigen die drei Dissertationen, die hier vorgestellt werden.

Markerts und Sterkenburghs Biographien ergänzen sich zeitlich. Markert verfolgt den politischen Weg Wilhelms bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes, Sterkenburgh setzt mit der Reichsgründung ein. Die Jahre dazwischen, die nationalpolitisch offener waren, als man im Rückblick oft gemeint hat, streifen sie nur. Beide schreiben gegen eine auf Bismarck zentrierte Historiographie. Damit diese Botschaft nicht überlesen wird, greift Markert zu starken Worten: "Bismarckgläubigkeit", "Mythos vom Kanzler als Reichsgründer" (3), "Bismarcks entscheidungspolitische Impotenz" (609, 628), "Ein Bismarckreich gab es nie". (7) Beider Autoren Held ist Wilhelm. "Bismarckquellen erzählen Bismarckgeschichten", konstatiert Markert zu Recht (4), royale Quellen, darf man ergänzen, erzählen eine royale Geschichte. Sie ist vor allem aus der umfangreichen Privatkorrespondenz Wilhelms geschöpft, die beide Biographen eingehend auswerten (neben einer Vielzahl weiterer Quellen und der Fachliteratur). Deshalb sind ihre Bücher Fundgruben auch für diejenigen, die ihrem Bild Wilhelms als starken, an Gestaltungsmacht alle anderen Akteure weit überragenden Monarchen nicht oder nur teilweise folgen mögen.

Markert erzählt die Geschichte Wilhelms chronologisch in 45 Kapiteln. Da Wilhelm bis 1857, als er die Stellvertretung für den erkrankten Friedrich Wilhelm IV. übernahm, ein "unverantwortlicher Akteur" (301) am Berliner Hof blieb, tritt er in den 24 Kapiteln, welche diese Zeit abhandeln, als meist äußerst kritischer Kommentator der Politik seines königlichen Bruders auf. Hier wird Bekanntes aus der deutschen und europäischen Geschichte in der Einschätzung durch Wilhelm betrachtet. Für dessen Biographie ist das einschlägig, für das politische Geschehen nicht. Markert charakterisiert es mit markigen Worten. Etwa, die Paulskirche im Krieg gegen Dänemark als der "säbelrasselnde Papiertiger". (216)

Markert liebt die sprachliche Dramatisierung. Die Unzufriedenheit Wilhelms mit der Politik seines Bruders erhöht er zum "Dynastiebruch" (78 u.ö.), er spricht von "institutionelle[r] Richtlinienanarchie" (92), die Unstimmigkeiten zwischen preußischen Ministern zur "Regierungsanarchie" (86) oder gar zum "Systemchaos" (87) ausufern lasse. Es gibt viel Paranoia bei Markert. Er erkennt eine "konservative Augustaparanoia" (472), bei Wilhelm diagnostiziert er Paranoia gegen Liberalismus, Revolution und Österreich. Auch das Einstreuen englischer Worte oder Sätze dient vermutlich dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Etwa, der Augustenburger Erbprinz 1864 als "wannabe-Herzog" (602), Wilhelm 1857/58 als "almost-Herrscher" (380), Napoleon als "Kaiser-to-be" (318) oder "anno 1856 waren diese Quellen noch kein preview of coming attractions". (357) Wilhelm und Bismarck nennt er "partners in crime against Austria" (409), als "partners in crime" würdigt er auch Bauer und Sterkenburgh (VIII), die sich mit ihm austauschten, als sie zeitgleich in den Archiven forschten. Wer eine solche Mischsprache nur aus der Werbung kennt, mag sie in einem wissenschaftlichen Buch als befremdlich empfinden.

Markert beschreibt Wilhelms politischen Weg als einen Lernprozess, in dem der Revolution 1848/49 eine zentrale Bedeutung zukommt. Wilhelm erkannte damals den Konstitutionalismus und die deutsche Frage als Möglichkeiten, die Institution Monarchie "neu zu legitimieren" (211) und Preußen als Großmacht gegen oder zumindest neben Habsburg zu etablieren. Wilhelm habe schon Ende 1848 die Chance zu einer kleindeutschen "Reichsgründung von oben und unten" gesehen, während sein Bruder zeitlebens "habsburgloyal" geblieben sei (222). Markert legt zwar Wert darauf, keine auf den Nationalstaat zulaufende Geschichte zu erzählen, doch Wilhelms Programm, die "Nationalisierung der Monarchie" mit der "Monarchisierung der Nation" zu verbinden - ein "dynastisches Hijacking der Nationalbewegung" - bezeichnet er als "eine kohärente, konsistente und persistente Agenda" (227, erneut 489). "Letztendlich" (ein Wort, das Markert immer wieder verwendet, um seine Deutung zu bekräftigen) entwirft er Wilhelm als Vorausdenker des preußisch-deutschen Einheitsweges. Wilhelm, nicht Bismarck entwarf diese Vision. Das ist ihm wichtig. "Lange vor Bismarck" habe Wilhelm "den revolutionsprophylaktischen Aspekt der Deutschen Frage in den Agendafokus der preußischen Politik" (227) gerückt. Schon 1856 schrieb er seinem Bruder, "Preußens Aufgabe ist Fortschritt, also auch Vergrößerung, [...] wenn ein gerechter Grund dazu vorliegen sollte." (357)

Wilhelm zielte von Beginn an auf den "Aufbau einer persönlichen Monarchie", auf "ein Selbstherrschersystem". "Letztendlich sollte es auf der Zweimannebene von Kaiser und Kanzler sogar bis 1888 fortleben." (387f.) Wilhelm als "Architekt" (387) einer Epoche, in welcher der Monarch die Instanz des letzten Wortes blieb, der Entscheider. Das ist Markerts Kernaussage. Und auch Sterkenburghs. Er konzentriert sich auf die Selbstinszenierung Wilhelms, die ihn der Öffentlichkeit, aber auch seiner Machtentourage ständig als "the principal political actor" und "the embodiment of Germany's political system" vor Augen führte (8). Was "persönliches Regiment" heißt, habe Wilhelm I. entwickelt, sein Enkel, dem es zugeschrieben wird, sei ihm darin und auch in der Rolle als Medienkaiser und als Militärmonarch gefolgt. Als Medienvirtuose habe Wilhelm I. die moderne Monarchie verkörpert, als Militärmonarch das Bollwerk gegen eine durchgreifende Parlamentarisierung. Sterkenburgh zeigt, wie Wilhelm immer wieder in politische Entscheidungsprozesse eingriff und wie er, um der Öffentlichkeit sein Bild von der Monarchie und der preußisch-deutschen Geschichte einzuprägen, die einzelstaatlichen Monarchen föderativ einzubinden suchte, wie er biographische Studien über sich in Auftrag gab und lenkte, sich an der Gestaltung von Berlins politischer Topographie beteiligte, Militärparaden und dynastische Jubiläen plante.

Politisch blieb Bismarck ebenso wie Moltke militärisch abhängig vom "imperial master". Er behielt das letzte Wort. "This proverbial 'last word' was the core of Wilhelm's personal regiment: chancellor, cabinet, Reichstag, and population - all had to see that in Germany the emperor governed." (101) Zentral für Wilhelm war die Hoheit über das Militär. In ihm wusste er die Institution Monarchie, wie er sie ausgestalten wollte, verankert. Deshalb wollte er den Zugriff des Parlaments möglichst begrenzen, vor allem aber wollte er Herr über Krieg und Frieden bleiben. Krieg war ein politisches Handlungsinstrument für ihn, doch die Gegenseite sollte ihn beginnen, und Krieg gegen Russland lehnte er ab.

In Kernbereichen der Politik bewahrte sich Wilhelm seine Letztentscheidung, auch gegenüber dem vermeintlich übermächtigen Bismarck. Das zeigen Markert und Sterkenburgh überzeugend. Wilhelm gehörte unter den Monarchen Europas zu den entschiedenen Verfechtern eines royalen Suprematieanspruchs. Doch um das Kaiserreich im Wandel angemessen einschätzen zu können, müssen auch andere Akteure auf der politischen Bühne beobachtet werden. Die Bühne veränderte sich, und mit ihr die Handlungsmöglichkeiten der Akteure. Wie auch immer man die "stille Parlamentarisierung" einschätzen mag, das Parlament, die Parteien und Verbände gewannen an Einfluss, und der Interventionsstaat wuchs über die Fähigkeit des Monarchen zur "Selbstherrschaft" hinaus. Auch im "monarchical federalism" (Sterkenburgh, 194ff.) wurde das sichtbar. Monarchie bedeutete in den deutschen Einzelstaaten unterschiedliches. Die beiden Biographen blicken auf Preußen oder mit preußisch-royalem Blick auf Deutschland. Es ist ein wichtiger, aber doch begrenzter Blick auf das Kaiserreich.

Susanne Bauer beansprucht nicht, das Kaiserreichbild neu zu formen. Sie untersucht Augustas umfangreiche Briefkommunikation. Sie war ihr Hauptinstrument, um sich zu informieren und Einfluss auszuüben. An wen wurde in welchem Format geschrieben, wie wurde die Briefetikette gehandhabt (Breite des Rands, freier Raum unter Anrede, Anreden, Grußformeln u.a.)? Hauptsprachen in Augustas Briefen waren deutsch und französisch, gelegentlich trat englisch hinzu. Ihr Briefnetzwerk war europäisch und ging auch über Europa hinaus. Sie nutzte Neues wie die Telegrafie oder die Postkarte. Sie las viele Zeitungen, auch französische und englische, bat Gewährsleute um ihre Einschätzungen, ließ sich Entwürfe für Denkschriften und ähnliche Interventionen ausarbeiten. Sie las auch wissenschaftliche Werke und besuchte Vorträge. Im Kontakt mit Wissenschaftlern trat der Brief gegenüber dem Gespräch zurück. Im Dauergespräch mit ihrem Mann dominierte hingegen der Brief, auch wenn beide am selben Ort waren.

Wilhelm gefiel es nicht, wenn seine Frau als "femme d'esprit" auftrat, wie er seiner Schwester Alexandrine schrieb (59). Augusta stilisierte sich als unpolitische Frau, doch dieses Rollenbild unterlief sie ständig. Minister lud sie zu Audienzen. Wenn sie als Königin und dann als Kaiserin sich an eine Amtsperson wandte, galt ihre Bitte als Auftrag. Nicht immer konnte er ausgeführt werden, aber doch oft. Ihre Missbilligung der Kulturkampfgesetze war bekannt. Sie setzte sich für konfessionelle Versöhnung ein und rechtfertigte dies gegenüber Wilhelm mit "meinem weiblichen Beruf". (225) Mit verfolgten Geistlichen hielt sie Briefkontakt.

Augusta sah sich als Partnerin ihres Ehemannes auch in politischen Fragen. Ihn zu beraten und auch zu kritisieren, nannte sie ihm gegenüber ihren "patriotisch schweren Beruf". (82) Nach 1870 verfasste Augusta monatlich, später vierteljährlich Einschätzungen der politischen Lage. Wilhelm las und kommentierte sie. Ihre Empfehlungen nahm er zum Teil auf oder ging über sie hinweg. Auch gegenüber seiner Ehefrau behauptete er sich als politische Instanz des letzten Wortes. So auch bei Bismarcks Berufung zum Minister, gegen die sie Wilhelm eine Denkschrift sandte.

Nicht nur im deutsch-französischen Krieg traten Augusta und Wilhelm als royales "Amtsehepaar" auf, wie Heide Wunder (88) diese Rolle genannt hat. Er an der Front als Oberbefehlshaber, sie als Landesmutter im karitativen Einsatz. Zur Integration des Roten Kreuzes in das Militärwesen trug sie wesentlich bei, nach ihrem Tode richtete das Internationale Rote Kreuz einen Augusta-Fonds ein. Auch der Briefwechsel zwischen Augusta und Wilhelm funktionierte arbeitsteilig. Sie richtete Briefe in alle Richtungen, an die Verwandten am britischen Königshof ebenso wie am russischen, um politische Meinungen weiterzuleiten oder einzuholen. Als ihr zum Beispiel die britische Königen 1870 von feindseligen Gefühlen in England gegen Deutschland schrieb, leitete sie eine Abschrift an ihren Mann weiter, der sie Bismarck gab. Augusta hatte die Botschaft Königin Victorias eigenmächtig verstärkt (174f.). Augusta war sich der Bedeutung ihrer Briefwerkes für die Nachwelt bewusst. Schon ab den 1850er Jahren hat sie Regelungen zur posthumen Veröffentlichung getroffen.

Bauers Buch bietet für viele Fragen wertvolle Auskunft. Dies gilt für die Briefforschung ebenso wie für die politische und kulturelle Geschichte. Für die Erforschung von Handlungsräumen, die sich Frauen im 19. Jahrhundert gegen die Kritik aus ihrer männlichen Umwelt erschlossen haben, ist ihr Werk ein gewichtiger Beitrag. Sie entwirft ein Bild der preußisch-deutschen Monarchie, das an Augustas Briefwechsel einsichtig macht, wie genau man am Berliner Hof den gesellschaftlichen und politischen Wandel beobachtet und darauf reagiert hat. Augusta war zukunftsoffener als ihr Ehemann, der eine parlamentarische Monarchie nach britischem Muster dezidiert ablehnte. Wie er das tat, belegen Markert und Sterkenburgh detailliert. Ein neues Kaiserreichbild entsteht dadurch nicht. Dass Bismarck von seinem königlich-kaiserlichem Herrn abhängig war und trotz seines Nimbus als Reichsgründers blieb, gehört zu den Kernelementen der politischen Ordnung im deutschen Kaiserreich. Die Forschung dazu ist reichhaltig.

Dieter Langewiesche