Asami Kobayashi: Papsturkunden in Lucca (1227-1276). Überlieferung - Analyse - Edition (= Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde; Beiheft 15), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 582 S., 27 Tabl., ISBN 978-3-412-50871-5, EUR 70,00
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Lucca gilt als "Pompeji der Urkundenüberlieferung" [1], verwahren die Archive der toskanischen Stadt doch unzählige, teils noch unerschlossene Urkunden. Die hier zu besprechende Marburger Dissertation nimmt sich eines Teils dieses Urkundenbestandes an, nämlich der Papsturkunden aus den Pontifikaten von Gregor IX. bis Gregor X. Indes werden nicht nur die erhaltenen Originale, sondern - wie in jüngeren Studien [2] - auch die kopiale Überlieferung erfasst.
Den Luccheser Bestand bilden 314 Papsturkunden, die um die Mehrfachüberlieferung bereinigt insgesamt 290 verschiedene Urkundentexte enthalten. Davon sind 136 Originale, 84 Kopien in notariellen Imbreviaturbüchern des bekannten Ciabattus und seiner Kollegen sowie 94 andere Abschriften, etwa Inserte in Urkunden, Protokollen oder Kopialbüchern. Über 85% der Schriftstücke stammen aus den Pontifikaten Gregors IX., Innozenz' IV. und Alexanders IV., was nicht nur in deren längeren Amtszeiten, sondern mit Blick auf die Imbreviaturbücher auch darin begründet liegt, dass diese von Alexander IV. an nicht mehr als Gerichtsakten des Domkapitels dienten (96). Lediglich 8 Privilegien und 1 Bulle stehen 281 litterae gegenüber. 197, also zwei Drittel der Urkunden, sind Justizbriefe, erteilen mithin Befehle oder verhandeln Rechtsstreitigkeiten; weitere 71, was einem Viertel des Gesamtbestandes entspricht, sind Gratialbriefe, mit denen dem Empfänger eine Gnade oder ein Recht gewährt wurde. Beinahe die Hälfte aller Urkunden und drei Viertel der Originale betreffen Ordensangelegenheiten, nicht zuletzt deshalb, weil die Orden diese aufbewahrten und sammelten, registrieren und abschreiben ließen (107-111). Einmal mehr bestätigt sich, dass bloß ein Bruchteil der Urkunden in den Papstregistern eingetragen wurde. Petenten mussten die Registrierung veranlassen, die mit zusätzlicher Wartezeit und Kosten verbunden war und oftmals nicht lohnenswert erschien. Die Registrierungsquote aus Lucca beträgt lediglich 7,2% (37-40).
Die dreigeteilte Studie beginnt in der ersten Sektion mit einem Abriss der Papsturkundenforschung (21-40), in dem wegbereitende Unternehmungen wie der zwischen 1965 und 1986 gedruckte Schedario Baumgarten oder der 1952 bekanntgemachte Censimento Bartoloni und darauf folgende Arbeiten zu bestimmten Urkundenkonvoluten samt der Arten der Urkundenerfassung abgehandelt und mit dem Luccheser Befund abgeglichen werden. Handbuchartigen Charakter besitzt die anschauliche Darstellung des päpstlichen Urkundenwesens des 13. Jahrhunderts, die sowohl auf Ergebnissen der Forschung als auch auf den Befunden des Luccheser Materials basiert (41-86).
Zunächst werden die verschiedenen Urkundenarten, die ihre charakteristische formale und sprachliche Gestalt damals bereits erlangt hatten (Privilegien, Briefe) bzw. erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts aufkamen (Bullen), anschließend die Arbeitsschritte der Urkundenausstellung von der Petition über Konzept, Reinschrift, Korrektur, Verlesung, Bullierung und Taxierung zur Registrierung dargelegt. Eingehend untersucht und tabellarisch aufbereitet (499-525) werden ferner die zahlreichen auf Papsturkunden eingetragenen Vermerke. Nennenswert sind seltene Taxvermerke auf zwei Originalen Innozenz' IV., die somit nicht erst mit der Taxordnung seines Amtsnachfolgers aufkamen (80 f.). Teil I endet mit einer quantitativen Analyse der Papsturkunden in Lucca sowie mit dem Versuch, die in der päpstlichen Kanzlei ausgestellten Urkunden anhand des Luccheser Befundes zu errechnen: Demnach hätte die Kanzlei monatlich zwischen 590 und 3588, jeder der - auch das kalkuliert - 80 Schreiber zwischen 90 und 530 Urkunden jährlich angefertigt (111-113).
Im zweiten Teil folgt eine inhaltliche und historische Analyse zahlreicher kopial überlieferter und nicht registrierter Papsturkunden. Besonders in den Blick genommen wird die päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit in Gerichtsprozessen (119-180) und in Benefizialangelegenheiten (181-223). Päpste übertrugen ihre Befugnisse an geistliche Richter, wofür sie in Strafsachen Delegationsreskripte ausstellten, die lediglich für den zugewiesenen Streitfall gültig waren und ein Jahr nach der Urteilsverkündung erloschen. Obschon ein einheitlicher Prozessablauf vorgesehen war (122-138), konnten sich Prozessparteien anders als vorgesehen nicht immer auf einen gemeinsam zu benennenden Richter einigen (167-172) oder Delegatrichter von den Vorgaben abweichen (136 f.).
Die den delegierten Richtern übertragenen Streitentscheidungen werden hier anhand der Formulierungen in den Urkunden unterschieden. Gewöhnliche Streitgegenstände wie Zehnt- oder Grundstücksstreitigkeiten sind in einer formelhaften Narratio nach der Präposition super aufgelistet (139-146), komplexe Streitfälle hingegen ausführlicher geschildert (146-149). Appellationsrichter konnten, je nach den in den Anweisungen formulierten si est ita- und alioquin-Klauseln, Urteile annullieren oder vollstrecken, die bisherigen Prozessschritte widerrufen und eine Entscheidung fällen oder aber an eine frühere Instanz zurückverweisen (150-167). Die anlässlich von Pfründenprovisionen ausgestellten Benefizialreskripte unterscheidet die Verfasserin nach den Befehlsarten, also den Aufträgen an die Provisionsexekutoren, die sich nicht immer eindeutig als provisor und compulsor ausmachen lassen (186 f.). Die Geistlichen hatten die Ansprüche des Provisionskandidaten zu überprüfen und ihm ein mit einem festen Einkommen (beneficium) ausgestattetes Kirchenamt (officium) zu verleihen. Dabei konnte es sich um eine bestimmte oder eine unbestimmte Pfründe handeln, die entweder in ihrer Kirche oder in einer anderen lag, wobei Provisionsverfahren durchaus juristische Probleme bergen konnten (208-220). Abschließend werden Urkunden, die politische Ereignisse betrafen, detailliert betrachtet (225-260). Weder Anwohner noch Kurie wussten beispielsweise stets, wer exkommuniziert war (246-260). Überdies konnte erstmals der Nachweis erbracht werden, dass der Pisaner Bischof Vitalis um 1250 der Exkommunikation verfiel, weil er einer Zahlungsaufforderung nicht nachgekommen war (252 f.).
Anschließend folgen im dritten Teil die sorgfältig erstellten Regesten und Editionen (267-495). Die in den Imbreviaturbüchern enthaltenen Urkundenabschriften, fast allesamt noch unediert, werden vollständig abgedruckt, die Originale und weiteren Abschriften regestiert. Ein Verzeichnis der gedruckten und ungedruckten Quellen wie der Literatur ist beigegeben (540-563); zur Erschließung dient ein Personen- und Ortsregister (564-582).
Eindrücklich wird der Geschäftsgang der Urkundenausfertigung mit den daran beteiligten Personen und den dabei hergestellten oder herangezogenen Schriftstücken dargestellt. Immer wieder begegnen Einzelschicksale und Lebensgeschichten. Auch lassen sich Geistliche, die wiederholt richterliche Aufgaben zu verrichten hatten, Einzelpersonen und Institutionen, die Begünstigungen erfuhren, Bestätigungen erhielten oder in Streitigkeiten verwickelt waren, verfolgen. Es entsteht somit ein lebendiges Bild von Lucca im 13. Jahrhundert.
Anmerkungen:
[1] Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570, hier 532.
[2] Etwa Vasil Bivolarov: Inquisitoren-Handbücher. Papsturkunden und juristische Gutachten aus dem 13. Jahrhundert mit Edition des Consilium von Guido Fulcodii (= MGH Studien und Texte; 56), Wiesbaden 2014.
Giuseppe Cusa