Philipp Gassert: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945 (= Zeitgeschichte aktuell), Stuttgart: W. Kohlhammer 2018, 308 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-029270-3, EUR 25,00
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Ob die Demonstrationen gegen das Projekt "Stuttgart 21", die Bewegung "Occupy" oder "Pegida"-Versammlungen, aber auch jüngst die Besetzung des Hambacher Forsts oder "Trauermärsche" in Chemnitz und Köthen: Es gehört offenbar fast schon "zum guten Ton, auf die Straße zu gehen, um Unmut zu artikulieren - wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Gründen und Motiven". Ablesbar an diesen Demonstrationen und den jeweils unterschiedlichen Unmutsbekundungen ist hierzulande in gewisser Weise eine Normalisierung und Veralltäglichung von Protest zu erkennen, die auch Philipp Gassert zu beobachten glaubt (11). Dieser Eindruck führt zu den übergeordneten Fragen, wann und warum Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland auf die Straße gegangen sind und ab welchem Zeitpunkt öffentliches Protestieren zu einem selbstverständlichen Teil unserer politischen Kultur wurde.
In der Einleitung werden die wesentlichen Merkmale von Protesten definitorisch gebündelt, etwa Sinnstiftung, die Verbindung von Menschen und das Sichtbarmachen bestimmter Anliegen. Hinzu tritt eine wie auch immer geartete Reaktion der Etablierten, die einen Protest erst zu einem Protest machen. Protest wird hier als Indikator bzw. Form sozialer und kommunikativer Bewältigung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen verstanden. Gassert, der diese Bewältigung als "zentrale soziale Komponente von Protest in einer offenen Gesellschaft" definiert (19), versteht Protest als Medium gesellschaftlichen Streits und als "Resonanzraum gesellschaftlichen Wandels" (273). Diese übergreifende Protestgeschichte seit der Besatzungszeit, die den Auftakt der Reihe "Zeitgeschichte aktuell" bildet, berücksichtigt vor allem Straßenproteste als kollektive Phänomene. Hinzu kommen Sonderfälle, wie gewerkschaftliche Proteste oder solche von Migranten. Erfreulich, wenngleich methodisch und in narrativer Hinsicht anspruchsvoll, ist die Einbeziehung der DDR mit dem 17. Juni 1953 und der "Friedlichen Revolution" 1989/90. Dass die Proteste um "Stuttgart 21" ebenso als "Montagsdemonstrationen" begannen wie jene gegen Sozialabbau ab 2004 oder die bis heute andauernden allmontäglichen Kundgebungen in der sächsischen Landeshauptstadt, legen einen solchen doppelten Zugriff nahe.
Gassert wählt einen chronologischen Zugang zum Thema, was aus darstellerischer Sicht verständlich ist, aber ab und an die Protesttypologien etwas verschwimmen lässt. Er widmet sich zunächst den antikapitalistischen und deutschnational motivierten Protesten der Besatzungszeit und der frühen Bundesrepublik. In quantitativer Hinsicht suchten diese Demonstrationen, die gegen eine politische Bevormundung von außen gerichtet waren, ihresgleichen. In ihrem Aufbegehren gegen "Fremde" und imaginierte Feinde waren sie partiell antisemitisch und rassistisch. Damalige Proteste kamen in mannigfacher Form zum Ausdruck: als Hungerrevolte, als Anti-Demontage- oder Teuerungsproteste sowie Kundgebungen von Flüchtlingen und Vertriebenen, schließlich als Generalstreik, der sich in erster Linie gegen die Währungsreform 1948 richtete. Werfen diese weitgehend "vergessenen Proteste" ein etwas anderes Licht auf die Frühgeschichte der Bundesrepublik, regt der systematische Vergleich des DDR-Aufstandes von 1953 mit den Protesten in den Westzonen von 1948 zum Nachdenken an: Analoges (Preissteigerung, Lohnstagnation und Widerstand gegen "Besatzer") kontrastierte dabei mit gravierenden Unterschieden, nicht zuletzt, was die Nachwirkung der Aufstände betrifft. Bemerkenswert war die Erhebung in der DDR laut Gassert auch deswegen, weil ein bis dahin verstaatlichter Straßenprotest mitsamt realsozialistischen Inszenierungsmodi mit dem 17. Juni eine (gleichwohl nicht geduldete und mit Gewalt zurückgewiesene) Wiederaneignung des revolutionären Erbes der Arbeiterbewegung markierte.
Was folgt, ist ein chronologischer Gang durch die westdeutsche Geschichte anhand erwartbarer Wegmarken: Von der Ära Adenauer - hier führten Friedensbewegung, Wiederbewaffnung, gewerkschaftliche Proteste oder solche "Halbstarker" dazu, dass Straßenproteste schon bald zum "Inventar der Nachkriegspolitik" (106) gehörten - und "1968" - hier waren nach Gassert die Verhandlung in den Medien, die generationelle Frage sowie die globale Orientierung die entscheidenden Neuerungen - gelangt der Verfasser zu den Neuen Sozialen Bewegungen. Insbesondere die Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung hätten in den 1980er Jahren einer "Normalisierung des Protests" weitgehend zum Abschluss verholfen (130), wobei an den gewählten Beispielen gut nachvollzogen werden kann, inwiefern Gelegenheitsstrukturen in hohem Maße darüber entscheiden, ob, wann und wie ein Protest reüssieren konnte. Die Friedensbewegung mit der größten Protestmobilisierung der "alten" Bundesrepublik habe zu einem tendenziellen Akzeptanzgewinn und einer generationell und sozial übergreifenden Verbreiterung der Protestpartizipation geführt, die bis heute anhält. Darüber hinaus wird erkennbar, warum diese und andere Protestaktionen eine Herausforderung für etablierte Akteure darstellten, etwa aufgrund ihrer konträren Organisationskultur und in ihrem Verhältnis zur bestehenden politischen Landschaft. Weniger als Herausforderung, sondern vielmehr als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung wurden von einigen Zeitgenossen die "Gastarbeiterstreiks" des Jahres 1973 interpretiert, die Ängste und Ablehnung bei zahlreichen Westdeutschen hervorriefen. Dass die Geschehnisse rund um das Ende der DDR bislang nur selten mit der allgemeinen Protestforschung verbunden worden sind, wird mit deren Eigentümlichkeiten erklärt: Straßenprotest war in diesem Fall anders situiert und fand unter anderen Bedingungen statt. Ansonsten folgt Gassert bei der Behandlung dieses Gegenstandes den gängigen Narrativen und Namen (Brüsewitz, Biermann, Bahro, "Schwerter zu Pflugscharen" usw.), greift aber richtigerweise die visuell-erinnerungskulturelle Umdeutung jener Ereignisse zu einem "Volksaufstand" auf.
Wie aktuell das Buch ist, belegen die beiden letzten Abschnitte, die als "Protestgeschichte der Gegenwart" tituliert werden. Neben Protesten der globalisierungskritischen Linken, worunter Antiglobalisierungsproteste und Friedensdemonstrationen gefasst werden, werden Proteste um Migration, Flucht und Asyl aufgegriffen. In diesem Abschnitt geht es um die Frage von Akzeptanz und Abwehr von kultureller Differenz und Migration als "eine zentrale politische und gesellschaftliche Scheidelinie" (262). Verfolgungsjagden eines rechten Mobs auf Nichtdeutsche im Zuge der Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, die seinerzeit viel Aufmerksamkeit in der nationalen wie internationalen Presse hervorgerufen haben, bezeichnet Gassert als größten "race riot" im wiedervereinigten Deutschland. Die rechtsradikalen, rechtspopulistischen und nationalistischen Protestformen gegen die wirtschaftliche Seite der Globalisierung und liberalen Ideen weisen - so eine ebenso gewagte wie naheliegende Überlegung - in struktureller Hinsicht und im Agieren, mitnichten jedoch in ihren Zielen, Ähnlichkeiten mit den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre auf (241), wollten doch beide Gruppierungen den Status quo in der deutschen Gesellschaft nachhaltig verändern. Es ist begrüßenswert, dass Gassert diese "neuen" globalisierungs- und allen voran migrationskritischen, teils rassistisch-fremdenfeindlichen Haltungen hier integriert und als Protestmodi auch ernst genommen hat. Denn sie drückten Unbehagen aus, regten Gesellschaft zum Nachdenken an und erfüllten dadurch einen wesentlichen Rückkopplungseffekt von Protesten. Das Aufbegehren populistischer Bewegungen zwingt zum Nachdenken. Gewissermaßen ex negativo üben sie eine Funktion aus, in der Auseinandersetzung mit ihnen Antworten auf virulente gesellschaftliche Fragen der Repräsentation zu entwickeln. Philipp Gasserts gelungener Blick auf Protestlogiken seit 1945 jedenfalls hilft uns dabei, deren gegenwärtige Präsenz trotz offenen Ausgangs in der longue durée besser einordnen zu können.
Christoph Lorke