Paul Betts: Within Walls. Private Life in the German Democratic Republic, Oxford: Oxford University Press 2010, XI + 321 S., zahlreiche s/w-Abb., ISBN 978-0-19-920884-5, GBP 35,00
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Nach wie vor existieren unvereinbare Perspektiven auf die untergegangene DDR, die sich zwischen "Stasiland" (Anna Funder) und "Sonnenallee", zwischen den Erkenntnissen historischer Forschung und individueller Einforderung ("Ostalgie") bewegen. Die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur ist ebenso vielfältig wie umkämpft. Die häufig pauschalierende Abwertung zahlreicher Biografien ehemaliger DDR-Bürger steht in enger Verbindung mit der Behauptung, dass es - ganz im Sinne totalitarismustheoretischer Ansätze - eine Privatheit in der DDR nicht gegeben habe, schließen sich doch Privatsphäre und Rahmenbedingungen im Staatssozialismus per definitionem kategorisch aus.
Der amerikanische Historiker Paul Betts versucht in seinem ideenreicher Buch, diese Engführung zu überwinden, indem er trotz des Primats öffentlicher Identitäten der Privatsphäre der DDR-Bürger eine zentrale Bedeutung zuerkennt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen dabei Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen des Privatlebens in einer öffentlich kontrollierten Gesellschaft. Die private Sphäre, "somehow there and not there at the same time" (1), erscheint als eine Arena der Individualität, der Formierung alternativer Identitäten und potenziellen Widerspruchs.
Betts' gewissenhafte und kenntnisreiche Einbettung der Frage um Privatleben/-sphäre/-bereich in 40 Jahre DDR-Geschichte gewährt dem Leser einen differenzierten Einblick in das Alltagsleben der DDR-Bürger. Durch Studien bislang kaum oder nur wenig berücksichtigter Quellen unterschiedlicher Provenienz, wie etwa Gerichtsakten, Memoiren und Fotoalben, rekurriert er auf die oft "konstitutive Widersprüchlichkeit" (Detlef Pollack) der DDR auch im ganz privaten Bereich, der zwischen einer Selbstverteidigung von staatlichem Geltungsanspruch und der individuellen Etablierung eines "Nischen-Daseins" oszilliert.
Die Monographie gliedert sich in zwei Teile. Geht es im ersten Teil um die Analyse geheimdienstlicher Arbeit, den Wirklichkeiten christlicher Subkultur und der Rolle von Scheidungen im Staatssozialismus, so befasst sich der zweite Teil mit häufig (n)ostalgisch verklärte Stilelemente wie Einrichtung, Nachbarschaft, Eingaben, Fotografie und Häuslichkeit. Einige wesentliche Thesen sollen in gebotener Kürze vorgestellt werden. So schildert Betts einen sehr persönlichen Bereich des Privatlebens einleuchtend: die Ehescheidung (Kapitel 3). Hier zeigt er auf, dass Scheidungsfälle oft unumwunden zu öffentlichen Problemen wurden und es als Folge nicht selten zu einer Auflösung und Veröffentlichung intimster Probleme kam. Öffentliche Anklage und Rhetorik trafen das Individuum hier ebenso wie bei der Alltagsjustiz, verkörpert durch die Schieds- und Konfliktkommissionen (Kapitel 5). Von einem solchen quasi-öffentlichen Organ zur Schlichtung privater Streitigkeiten konnte auch der Staat profitieren, wurden doch Ruhe und Ordnung, Sauberkeit und Komfort in den Wohngebieten sichergestellt und nicht zuletzt "asoziale" Bürger (oder solche, die von der Norm "ordentlich"-sozialistischer Lebensgestaltung abwichen) erfasst. Forciert wurde dadurch eine Art (Selbst-)Justiz in privat-eigenmächtiger Regie, wobei nicht zuletzt die Erziehungskomponente des Staates, dominiert von kollektiven sozialen Interessen, eine eminent wichtige Rolle spielte. Paradoxerweise wurde der Staat dadurch sowohl "foe and guardian of the private sphere" (172).
Durch das Eingabewesen, "the best-functioning and most used form of communication between citizens and state authorities" (174), verdeutlicht er wie schon an anderer Stelle [1] die Privatisierung der Politik und umgekehrt die Politisierung des Privaten. Deutlich wird durch diese dezente Form von Privatheit, die ihre große politische Bedeutung gerade in repressiven Räumen entfaltete, ein enger Konnex zu dem Streben nach demokratischer Partizipation.
In den 1970er und 1980er Jahren wandelten sich hartnäckigste Wahrnehmungen des Staates allmählich, wie Betts durch sprachliche Stichproben nachzuweisen versucht. Wohnraum, Rüstzeit, Fotografieren oder der Kleingarten erscheinen insbesondere ab jener Zeit als halbdurchlässige Refugien für die Bildung privat-individueller Selbstentwürfe. Allen voran der Wohnkultur (Kapitel 4) kam dabei als hochgeschätztem Raum relativer Freiheit und Behaglichkeit eine Schlüsselrolle im Privatleben zu.
Schreibt man eine Alltagsgeschichte der DDR, so sind stets die komplizierten Wechselwirkungen zwischen dem totalen Geltungsanspruch der Diktatur einerseits und der individuell erlebten Wirklichkeit andererseits mitzudenken. Die DDR war keinesfalls eine monolithische Gesellschaft, in ihr gab es mitnichten nur die beiden Pole "Unterordnung" oder "Nische". Einen differenzierten Blick auf die Graustufen dazwischen liefert die gut lesbare Studie von Paul Betts. Wie er zu zeigen vermag, müssen Privatheit und Staatssozialismus kein Gegensatzpaar sein. Zu bemängeln ist lediglich, dass sich dem Leser nicht vollständig erschließt, warum der Autor diese und nicht andere denkbare Bereiche der Privatsphäre (Urlaub, Familienfeiern, Westverwandtschaft, Reste von Bürgerlichkeit, informelles Handeln usw.) berücksichtigt hat. Dadurch gewinnt man mitunter den Eindruck, dass die einzelnen Kapitel etwas unvermittelt aufeinander folgen und allein durch die Klammer "Privatheit" zusammengehalten werden. Ferner richtet sich Betts' Fokus vor allem auf Ost-Berlin, das bekanntermaßen einen Sonderfall in der DDR darstellte. Zu hinterfragen bleibt daher, welche Abweichungen und Entsprechungen sich ergeben würden, richtete man den Blick auf andere, auch ländliche Regionen der DDR.
Dennoch erscheint Betts' innovative Studie für die Zukunft der historiographischen Rekonstruktion des DDR-Alltagslebens als ein unverzichtbarer Referenzrahmen. Ohne Verklärung oder Verniedlichung der Diktatur gelingt ihm eine Darstellung, welche nie die allgegenwärtige Präsenz eines Risses zwischen öffentlichem und privatem Leben aus den Augen verliert. So gelingt fernab einer Weichzeichnung eine schlüssige Historisierung der DDR, durch die nicht nur neue Denkanstöße ihrer "rätselhaften Stabilität" (Andrew I. Port) und ihres plötzlichen Zusammenbruchs geliefert werden, sondern auch die Erfahrungsseite vieler DDR-Bürger Berücksichtigung finden.
Anmerkung:
[1] Paul Betts: Die Politik des Privaten. Eingaben in der DDR, in: Daniel Fulda (Hg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg, Göttingen 2010, 286-309, hier 289.
Christoph Lorke