Tim-Lorenz Wurr: Terrorismus und Autokratie. Staatliche Reaktionen auf den Russischen Terrorismus 1870-1890, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 339 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78573-2, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Frey: Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und den USA, Göttingen: Wallstein 2020
Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Holger Nehring: Politics of Security. British and West German Protest Movements and the Early Cold War, 1945-1970, Oxford: Oxford University Press 2013
Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik, Göttingen: V&R unipress 2012
Horst Günther Linke: Fürst Aleksandr M. Gorčakov (1798-1883). Kanzler des russischen Reiches unter Zar Alexander II., Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2020
Terrorismus ist schwer zu definieren und weist nicht zuletzt im historischen Vergleich heterogene Aspekte auf. In der inzwischen kaum noch zu überblickenden Forschungsliteratur gewinnt jedoch die These zunehmend Anhänger, dass terroristischen Akten in erster Linie eine kommunikative Funktion zufällt. Sie sollen, um mit Peter Waldmann zu sprechen, "vor allem Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen" [1]. Dieser Ansatz hat sich insbesondere in Bezug auf den sozialrevolutionären Terrorismus im späten Zarenreich als fruchtbar erwiesen, und zwar zuletzt deswegen, weil die Terroristen selbst tatsächlich von ihren Anschlägen nicht nur einen sogenannten desorganisierenden Effekt, sondern primär eine starke Signalwirkung erhoften. Tim-Lorenz Wurr hat diesen Ansatz in seiner Dissertation konsequent weiterverfolgt. Herausgekommen ist eine solide Studie, die nur zu kleineren Einwänden Anlass gibt.
Das Ziel der Arbeit besteht in der Untersuchung der hinter verschlossenen Türen geführten Terrorismus-Diskussionen und der Entwicklung von staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des revolutionären Terrorismus. Auf der Grundlage einer großen Quellenbasis macht Wurr Entscheidungsprozesse im zarischen Machtapparat nachvollziehbar und trägt damit zu einem besseren Verständnis der offiziellen Kommunikationsstrategien der Autokratie bei. Wurr geht jedoch einen Schritt weiter und stellt den Bezug zwischen der offiziellen und offiziösen Berichterstattung auf der einen und den im Untergrund produzierten Texten der Revolutionäre auf der anderen Seite her. Die Analyse von Texten verschiedener gesellschaftlicher Akteure, insbesondere die Auswertung der russischen Publizistik, wurde bereits von Julija Safronova für die Jahre 1879-1881 geleistet. [2] Wurr gelingt es jedoch, mit dem Fokus auf das Innenministerium und einem größeren Untersuchungszeitraum eigene Akzente zu setzen. Außerdem berücksichtigt er konsequent die internationale Berichterstattung und ihre Bedeutung für die Politik der Regierung. Dies ist eine willkommene Bereicherung zu vergleichbaren Untersuchungen von Richard Pipes, Claudia Verhoeven, Ana Silnjak, Carola Dietze und anderen. Dadurch wird deutlich, dass man im Falle des Terrorismus der 1870er und 1880er Jahre von einem Wahrnehmungs- und Kommunikationszusammenhang sprechen kann, in den u.a. Terroristen, staatliche Akteure und Mitarbeiter zeitgenössischer Medien eingebunden waren. So gewinnt Wurrs These an Gewicht, der zufolge die Regierung sich "- ebenso wie die Revolutionäre - dazu gezwungen" sah, "ihr Handeln zu kommunizieren und zu legitimieren" (146). Der Autor zeigt ferner, wie sich das terroristische Bedrohungszenario nach der Ermordung Alexanders II. von der Realität "entkoppelte" und insbesondere in der Publizistik eine Eigendynamik entwickelte. Außerdem zeigt er, dass der Terrorismus staatliche Akteure dazu veranlasste, noch intensiver über die Herausforderung der Autokratie durch konstitutionalistische Ideen nachzudenken. Wurr verdeutlicht, wie terroristische Anschläge die Kommunikationspolitik der Autokratie veränderten. Obwohl Attentäter in der offiziellen Berichterstattung, anders als etwa in den erzkonservativen Moskovskie vedomosti, nicht namentlich genannt wurden, war der Staat gezwungen, der Erzählung der Narodnaja volja mit einer Gegenerzählung zu begegnen. Diese Thesen sind nicht gänzlich neu, sie sind aber in diesem Buch solide begründet.
Die Arbeit überzeugt durch eine ausführliche Klärung der Begriffe "Terror" und "Terrorismus". Dies gilt nicht für die ebenfalls zentralen Begriffe "Extremismus" und "Prävention" (auch verwendet in Form von "Extremismusprävention", "Terrorismusprävention", "Prävention terroristischer Anschläge"). Die Verwendung des Begriffs Extremismus hat den Nachteil, dass dieser zumindest in der Bundesrepublik mit der Extremismustheorie, dem Konzept der wehrhaften Demokratie, und dem Kampf des Verfassungsschutzes gegen Gruppen assoziert wird, die als Gefahr für eine normative Mitte angesehen werden. Hier wäre also eine Begriffsschärfung durchaus angebracht gewesen. Auch der Begriff der Prävention bleibt unscharf. Mal ist die Rede von "Präventions- und Bekämpfungsansätzen" (222), mal wird die Arbeit der "Polizei- und Sicherheitsdienste" als eine "effektive Prävention terroristischer Anschläge" (309) bezeichnet. Es wird also nicht klar, ob der Autor zwischen Terrorismusprävention und Terrorismusbekämpfung im Sinne von "weichen", vorbeugenden Maßnahmen, die dem Terrorismus seine Legitimationsgrundlage entziehen sollten, und "harten" Maßnahmen wie etwa der Stärkung des Sicherheitsapparates wirklich unterscheidet. Für die Zeit Loris-Melikovs wird jedenfalls in der Literatur von einer solchen "Doppelstrategie" [3] ausgegangen. Wurr findet für diese Politik sogar den gleichen Ausdruck (155), wendet aber den Präventionsbegriff offenbar auf den gesamten Untersuchungszeitraum an.
Wurr möchte ausdrücklich keinen Beitrag zu den aktuellen Debatten über die Genese des Phänomens Terrorismus leisten. "Ermöglichungsfaktoren des Terrorismus" (222) werden in dieser Studie nur als ein Element des herrschaftlichen Diskurses analysiert, die Frage nach ihrem historischen Realitätsgehalt wird nur in Ausnahmefällen gestellt. Dadurch bleibt die Untersuchung häufig dann deskriptiv, wenn es um die Bewertung der Erfolgsaussichten staatlicher Reform- und Repressionsmaßnahmen geht. Ging beispielsweise Pëtr Valuev an die Wurzel des komplexen Problems, wenn er nach dem Karakozov-Attentat vor Überreaktionen warnte? Waren die Reformen unter Loris-Melikov, für die Wurr lobende Worte findet, auch eine gute längerfristige Strategie im Kampf gegen den Terrorismus? Dies lasse sich dem Autor zufolge "an dieser Stelle nicht beurteilen" (221). War die Zensurverschärfung in der Zeit Evgenij Feoktivstovs eine effektive Maßnahme oder schürte sie ganz im Gegenteil Widerstand, der zu einer Neuformierung der revolutionären Bewegung in den 1890er Jahren beitrug? Auf diese Frage muss der Leser ebenfalls eine eigene Antwort finden. Die Feststellung, dass die "Summe der Maßnahmen" (310) des Staates die Narodnaja volja schlussendlich handlungsunfähig gemacht habe, bleibt eine sicherlich nicht falsche, aber unbefriedigende Erkenntnis.
Nicht überzeugend ist hingegen die bis heute verbreitete These, dass sich die narodovol'cy von Terroristen des 20. und 21. Jahrhunderts dadurch unterschieden hätten, dass die ersteren "keine skrupellosen Gewalttäter" gewesen seien. Sie hätten es vermieden, Attentate "an öffentlichen Orten" durchzuführen oder "Brücken und Straßen zu sprengen". Der "Einsatz terroristischer Gewaltmittel" sei vielmehr restriktiv erfolgt (128). Als Kontrastfolie dienen dem Autor die direkt gegen große Bevölkerungskreise gerichteten Terrorakte nordkaukasischer Separatisten. Dies ist insofern falsch, als die narodovol'cy - wie Wurr selbst ausführt - durchaus Brücken und Straßen sprengen wollten. Sie legten eine Bombe unter die Malaja Sadovaja ulica und beabsichtigten, den Kamennyj most in die Luft zu jagen. Auch der Ekaterininskij kanal, auf dem der Zar schließlich getötet wurde, war ein öffentlicher Ort. Der Tod zufällig anwesender Passanten war von der Narodnaja volja zwar nicht intendiert, er wurde aber bewusst in Kauf genommen und gegen das zukünftige Wohl des "Volkes" aufgewogen. Zu den Opfern der Sprengstoffattentate zählten dementsprechend nicht nur Soldaten und Polizeimitarbeiter. Ein Gegenbeispiel wäre der vierzehnjährige Bauernjunge Nikolaj Zacharov, der den Verletzungen, die er beim Bombenattentat auf Alexander II. erlitt, am 3. (15.) März 1881 erlag. Hinzu kommt die von Willkür und Brutalität gekennzeichnete Ermordung von wahren oder vermeintlichen Verrätern und Spionen.
Diese kritischen Anmerkungen können aber nicht den positiven Gesamteindruck trüben. Tim-Lorenz Wurr hat ein wertvolles Buch geschrieben, das allen empfohlen werden kann, die sich für die Geschichte des Terrorismus im Zarenreich interessieren.
Anmerkungen:
[1] Peter Waldmann: Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 2005, 12.
[2] Julia Safronova: Russkoe obščestvo v zerkale revoljucionnogo terrora, 1879-1881, Moskau 2014.
[3] Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich, Wiesbaden 2014, 176.
Vitalij Fastovskij