Michael Frey: Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und den USA (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 26), Göttingen: Wallstein 2020, 471 S., ISBN 978-3-8353-3518-9, EUR 42,00
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Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Zu den zählebigen Mythen der deutschen Erinnerungskultur gehört die Annahme von der Singularität von "68" als erste soziale Protestbewegung ihrer Art in der Bundesrepublik. Das Jahr "68" erscheint in den landläufigen Erzählungen noch immer als weitgehend spontaner Eruptionspunkt studentisch-jugendlichen Protests, der anschließend eine umfassende Umgründung der Bundesrepublik nach sich gezogen habe. Dementsprechend werden die Jahre vor "68" oft in schwärzesten Farben gemalt. Als "bleierne Zeit" imaginiert, in denen eine obrigkeitshörige, vorpolitische Konsensseligkeit die Gesellschaften der Bundesrepublik und des Westens mehltauartig bedeckt habe. Wie anfechtbar solche Darstellungen sind, lässt bereits ein flüchtiger Blick etwa in Kraushaars monumentale Protestchronik erahnen. Gerade die "silent fifties" erscheinen hier weltweit durchaus als ausnehmend protestreiches Jahrzehnt. Atomare Aufrüstungspläne, aber auch antikoloniale Befreiungskämpfe und Bürgerrechtsfragen, ließen in fast allen Ländern des Westens Protestbewegungen entstehen, die unter dem Sammelbegriff "Neue Linke", "new left", oder "Nouvelle Gauche" zusammengefasst werden. Die Entstehung dieser "Neuen Linken" in der Bundesrepublik und in den USA ist nun in der Dissertation des Historikers Michael Frey erforscht worden. Dabei interpretiert der Autor die "Neue Linke" als Vorläuferbewegung von "68" und Teil der Globalgeschichte des Kalten Krieges.
Der Aufbau der Studie erstreckt sich anschaulich über fünf Kapitel. Das erste Kapitel schildert den antikommunistischen Konsens in den Gesellschaften der USA und der Bundesrepublik und wird nachvollziehbar als Hintergrundszenerie der "Neuen Linken" identifiziert. Frey versteht den antikommunistischen Konsens als "dichotomes Weltbild mit simplen Freund-Feind-Schemata", in dessen Kreis aufgenommen wurde, wer sich bedingungslos zur westlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung bekannte und ebenso bedingungslos den "Parteikommunismus sowjetischer Prägung" ablehnte. (44-45) Überzeugend arbeitet Frey heraus, dass dieser Konsens keineswegs nur auf repressiven Maßnahmen beruhte, sondern sich ebenso auf eine umfassende Selbstreinigung und Selbstimmunisierung gemäßigter linker Kräfte stützen konnte. Linksliberale Ostküstenintellektuelle und sozialdemokratische Kreise um Kurt Schumacher identifiziert der Autor hierbei als treibende Kräfte hinter dieser Entwicklung in den USA und der Bundesrepublik.
Mit der Selbsteinreihung in die antikommunistische Wagenburg zogen sich der amerikanische "Konsensliberalismus" (66) und die deutsche Sozialdemokratie jedoch zugleich aus ihren traditionellen Themenfeldern zurück. So ging in den USA die überwiegend weiße Friedensbewegung auf Distanz zur afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und trieb sie damit in die politische Isolation. In der Bundesrepublik wiederum wurden linksprotestantische Neutralisten und Wiederbewaffnungsgegner, etwa die Kreise um Martin Niemöller oder Gustav Heinemann, Opfer dieses Prozesses. Folge dieses geordneten Rückzuges der gemäßigten Linken war die Entstehung eines "verbotenen Raumes" (74) jenseits des antikommunistischen Konsenses, der von einem Rest politisch isolierter Linkssozialisten bevölkert blieb.
Unter dem Eindruck geopolitischer Ereignisse entwickelte sich aus dem isolierten linkssozialistischen Milieu heraus ab 1956 die "Frühe Neue Linke", so Frey. Die Entdeckung der Befreiungsbewegungen in der "Dritten Welt" vor allem, aber auch die Reflektionen der moralischen Beschädigungen, die der Westen und die UdSSR in Ungarn und am Suez-Kanal 1956 erfuhren, hätten das antikoloniale, blockfreie Selbstverständnis der entstehenden Bewegung befördert. Hier kann Frey plausibel nachweisen, welche Impulse von der Entstalinisierungskrise des Jahres 1956 von desillusionierten Linksintellektuellen für die Entstehung der "Neuen Linken" in den USA, weniger in der Bundesrepublik, ausgingen.
In der Bundesrepublik erhielt die "Neue Linke" im Jahr 1958 besonders durch die "Kampf-dem Atomtod-Bewegung" Auftrieb. Ursprünglich von Gewerkschaften und Sozialdemokratie als außerparlamentarischer Protest initiiert, griff die "KdA-Bewegung" mit Hilfe "nationalprotestantischer Netzwerke" rasch auf die Universitäten über. In kürzester Zeit mobilisierten die Studentenausschüsse gegen Atomrüstung eine große studentische Protestbewegung, die vom SDS, dem Liberalen Studentenbund (LSD) und evangelischen Studentengemeinden getragen wurde, wie Frey am Beispiel von Münster und der Freien Universität Berlin nachweist. Plausibel argumentiert der Autor am Beispiel des Studentenkongresses gegen Atomrüstung, wie vor allem der SDS sich im Zuge der Protestbewegung vom antikommunistischen Konsens der SPD abnabelte und zum institutionellen Kern der "Neuen Linken" in der Bundesrepublik wurde.
Auf den Mobilisierungserfolgen und etablierten Netzwerken aufbauend, wurde die "Neue Linke" ab 1958/59 vollends "transnational" und übte verstärkt Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt". Hier weist Frey nach, dass besonders die emotionalisierte Berichterstattung der Studentenzeitschrift "Konkret" den Algerienkrieg ins Bewusstsein der studentischen Leser rückte und mit Bezügen zur NS-Vergangenheit zur Radikalisierung der "Neuen Linken" beitrug. In den USA sieht Frey in der gescheiterten Invasion in die kubanische Schweinebucht 1961 eine wichtige Zäsur für den Identitätsbezug der "Neuen Linken" auf die "Dritte Welt", die überdies ihr Bündnis mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung beförderte.
Abschließend erörtert Frey die Verbindungen zwischen der "Neuen Linke" und 1968, dem Ereignisjahr der globalen Protestbewegung. Hier weist er überzeugend nach, dass zumindest in der Bundesrepublik die Mobilisierung der studentischen Linken nach dem 2. Juni 1967 besonders in jenen Städten gelang, in denen bereits die "58er" universitäre und außeruniversitäre linke Milieus geschaffen hatten (406). In den USA, wo die Protestbewegungen der frühen "Neuen Linken" später und die "68er-Bewegung" früher als in der Bundesrepublik einsetzte, sind die Zusammenhänge freilich offensichtlicher als in der Bundesrepublik.
Überzeugend gelingt Frey vor allem die angestrebte Periodisierung seines Forschungsgegenstandes. So arbeitet er quellengesättigt und anschaulich die institutionellen und geistigen Kontinuitätslinien zwischen den "58ern" und den "68ern" heraus und kann dabei auch auf bisher unbekanntes Quellenmaterial wichtiger Akteure der Bewegung zurückgreifen. Überdies erliegt der Autor bei der internationalen Kontextualisierung nicht der Versuchung, zwanghaft internationale Transfers und Verflechtungen herbei zu analysieren. Transnationale Bezüge der beiden Protestbewegungen, so Freys angemessen bescheidene Schlussfolgerung, beruhten demnach weniger auf klassischen Verflechtungen, sondern dienten den Akteuren vorrangig dazu, Konflikthemen der eigenen Nation möglichst effektiv zu spiegeln und zu platzieren. Offen bleibt allerdings, ob Freys Ansatz auch für das Entstehen der Protestbewegungen um "68" in anderen, etwa nichtwestlichen Ländern wie der ČSSR oder Japan, Erklärungskraft besitzt. Auf diese Weise regt Freys sprachlich und stilistisch elegante, gut lesbare Studie ebenfalls dazu an, das Phänomen "1968" auch in Bezug auf andere Staaten entsprechend zu erforschen.
Tilman Wickert