Dorothee Hochstetter / Dieter H. Kollmer (Hgg.): Der Bundestagsausschuss für Verteidigung. Der Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit / Der Ausschuss für Verteidigung, Juli 1955 bis Januar 1956 (= Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer; Bd. 4), Düsseldorf: Droste 2017, IX + 1206 S., ISBN 978-3-7700-1703-4, EUR 59,80
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Dem Abgeordneten Helmut Schmidt (SPD) reichte es immer noch nicht. Seit Stunden schon debattierte der Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit über die Vorwegbewilligung von Planstellen im Bundesverteidigungsministerium auf der Grundlage des Freiwilligengesetzes vom 23. Juli 1955. Inzwischen waren, um den befürchteten "Wasserkopf" (70) in der Militärabteilung zu verhindern, die ursprünglich beantragten 1141 Stellen für Offiziere und Unteroffiziere auf 841 reduziert worden. Als Schmidt auch das als zu "mager" verwarf und weitere Einschnitte bei den Obersten forderte, rief Verteidigungsminister Theodor Blank (CDU) entnervt aus: "Ich bin doch nun wirklich an die Grenze des Möglichen gegangen" (178). In der Tat wurde an dem erzielten Kompromiss nicht mehr gerüttelt. Man kann sich aber vorstellen, in welcher Verfassung der Minister den Ausschuss am Abend nach insgesamt 6 ½ Stunden verließ.
Dieser Schlagabtausch entstammt dem Wortprotokoll der Sitzung am 26. Juli 1955 und ist abgedruckt im vierten Band der Edition "Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer". Er illustriert das Ringen um die Gewichtung zwischen militärischen und zivilen Elementen im Ministerium, aus dem sich schließlich "kein verkleidetes Oberkommando der Wehrmacht" (58) entwickeln sollte, wie Fritz Erler (SPD) zu bedenken gab. Der Abgeordnete Willy Thieme (SPD) konnte sich gar des Eindrucks nicht erwehren, die Planer in der Ermekeilkaserne würden, weil sie dem Ausschuss keine schematische Darstellung aller anvisierten Planstellen präsentiert hatten, bereits wieder den "Traum der großdeutschen Wehrmacht" (61) träumen.
Aus Befürchtungen wie diesen spricht eine Skepsis gegenüber der Militärbürokratie, die nicht zu verwechseln ist mit einer Aversion gegen das Militär überhaupt. Als im August 1955 eine Denkschrift in Umlauf geriet, die den vermeintlichen "Zivilkult" (1071) bei der Streitkräfteplanung als Ausdruck eines "Misstrauen[s] gegen die Soldaten" (1069) anprangerte, reagierten die Ausschussmitglieder nicht nur politisch alarmiert, sondern auch persönlich enttäuscht - immerhin handelte es sich beim Autor der Vorlage, Hauptmann a.D. Heinz Karst, um einen Referenten in der Abteilung Innere Führung des Grafen Baudissin, die das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" operativ umzusetzen hatte. In der Sitzung am 14. September 1955 gestand der Vorsitzende Richard Jaeger (CSU) zwar zu, dass die Verwechslung der Begriffe "zivil" und "politisch" oft Anlass zu Missverständnissen gebe. Die "parlamentarische Kontrolle" sei jedoch "niemals als Diffamierung der Soldaten" (231) gedacht gewesen.
Die Dokumente können also, zumindest in Teilen, als Ausdruck einer spezifischen Vertrauensarbeit des Ausschusses gelesen werden. Der Faktor "Vertrauen" spielte bei den Beratungen immer dann eine Rolle, wenn sie die demokratische Gesinnung der künftigen Armee und ihre Verankerung in der Gesellschaft berührten. Greifbar erscheint das vor allem bei der Kontroverse um die Einrichtung des Wehrbeauftragten, die letztlich dahingehend gelöst wurde, dass er vornehmlich eine psychologische Funktion übernehmen und als "oberster Vertrauensmann" (407) fungierten sollte. Im Sinne einer "Mittlerstellung nach zwei Seiten" (827) hatte der Beauftragte um das Vertrauen der Soldaten zu werben und zugleich Sorge dafür zu tragen, "dass im Volk Vertrauen zur Wehrmacht entsteht" (826) [1].
Solche Erwägungen wurden natürlich von dem Bewusstsein bestimmt, dass "gewisse historische Fakten" (828) vorlagen, die den Aufbau der Streitkräfte überschatteten. Allerdings war die diesbezügliche Sensibilität der Ausschussmitglieder, die überwiegend als Soldaten am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten, unterschiedlich stark ausgeprägt. Kaum jemand fand es anstößig, dass die ersten Offizierslehrgänge ausgerechnet in der ehemaligen NS-Ordensburg Sonthofen stattfinden sollten. Die unter anderem von Bundeskanzler Konrad Adenauer geübte Kritik [2] hieran stieß weitgehend auf Unverständnis, sie wurde gar mit dem Zwischenruf quittiert: "Dann darf man auch nicht auf der Autobahn fahren!" (260) Nur Fritz Erler (SPD) verspürte einen "schlechten Geschmack auf der Zunge" und wies auf den "Unterschied" hin, "dass auf der Autobahn nicht speziell SS-Formationen ausgebildet worden sind" (261). Zur Lösung des Problems begrüßte der Ausschuss die geplante Umbenennung der Ordensburg in "Generaloberst-Beck-Kaserne", die damit sozusagen eine vergangenheitspolitische Neucodierung erhielt.
Heikler gelagert war hingegen die "Affäre Zenker", mit der sich der Ausschuss am 19. Januar 1956 ausführlich befasste. Drei Tage zuvor hatte der kommissarische Leiter der Marineabteilung im Verteidigungsministerium, Kapitän zur See Karl-Adolf Zenker, eine Ansprache vor der Lehrkompanie in Wilhelmshaven gehalten, die ein problematisches Traditionsverständnis erkennen ließ, weil sie auf der Vorstellung einer ungebrochenen Marinekontinuität unter Einschluss des "Dritten Reichs" basierte. Die Exkulpation der Seestreitkräfte wurde vom Ausschuss im Sinne einer integrativ-pragmatischen Geschichtspolitik gar nicht beanstandet. Selbst Erler konzedierte, "niemand [habe sich] seiner Vergangenheit in dieser Waffengattung zu schämen". Dass Zenker aber auch die Großadmiräle Dönitz und Raeder in die positive Traditionsbildung miteinbezogen und so ihre Rolle als Hitlers Berater "weiß[ge]waschen" hatte, empfand der SPD-Politiker als unerträgliche "Aufwertung der nationalsozialistischen Vergangenheit" (1054). Bezeichnenderweise wurde diese Position im Ausschuss überwiegend nicht geteilt. Vornehmlich die Parlamentarier des bürgerlichen Lagers taten die Zenker-Rede als Manifestation des üblichen Korpsgeistes ab und mochten sie nicht überbewerten. Am Ende der Sitzung stand wenig mehr als die Empfehlung, die Offiziere sollten bei künftigen Ansprachen von derartigen Ausführungen absehen.
Die hier angesprochenen Punkte werfen nur vereinzelte Schlaglichter auf die Fülle des Stoffs, der 1955/56 abgearbeitet wurde, vor allem mit Blick auf die Zweite Wehrergänzung des Grundgesetzes. Bei diesen Beratungen behauptete sich der Ausschuss gegen den Druck Adenauers, für den eine rasche Verabschiedung des Soldatengesetzes Vorrang vor der Grundgesetzänderung genoss. Ermöglicht wurde das durch die lagerübergreifende Kooperation der "Großen Wehrkoalition". In den Sitzungen dominierte eine nüchterne Arbeitsatmosphäre. Prinzipielle Auseinandersetzungen über die Sicherheitspolitik der Bundesregierung sucht man vergebens, auch parteipolitische Sticheleien bleiben die Ausnahme. Stattdessen sind die Protokollseiten gefüllt mit langen Erörterungen zu den Besoldungsgruppen der Generalität oder den Standortplanungen des Verteidigungsministeriums. In der Gesamtschau der Dokumente konturiert sich somit ein eindrucksvolles Bild des Ausschusses als legislativ-politischer Akteur, das die neueren Erkenntnisse der Parlamentarismus-Forschung [3] stützt und die einseitige Interpretation der frühen Bundesrepublik als reine "Kanzlerdemokratie" relativiert.
Die Materie selbst zeugt vorrangig von der Gründungsphase der bundesdeutschen Streitkräfte, weshalb die Edition auch vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr verantwortet wird, während die Protokolle des Auswärtigen Ausschusses bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien ressortieren. Die äußere Einrichtung des Bandes erscheint mustergültig. Der Kommentar konzentriert sich auf einzelne inhaltliche und biographische Angaben sowie den durchgehenden Nachweis von Drucksachen des Ausschusses und Gesetzestexten aus dem Bundesgesetzblatt. Sehr hilfreich ist aber vor allem die inhaltliche Einleitung der Herausgeber Dorothee Hochstetter und Dieter H. Kollmer, weil sie die Materialfülle übersichtlich strukturiert und den Editionsertrag in gebündelter Weise vorstellt. So kann der Leser den gewaltigen Quellenberg wohlpräpariert besteigen.
Anmerkungen:
[1] Der Begriff "Wehrmacht" wurde damals noch üblicherweise als Bezeichnung für die Streitkräfte genutzt. Erst im Februar 1956 votierte der Ausschuss abschließend für die Benennung "Bundeswehr". Vgl. 3, Anm. 11.
[2] Vgl. das Schreiben Konrad Adenauers an Theodor Blank vom 11.8.1955, in: Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Briefe 1951-1953, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1995, Nr. 301, 344 f.
[3] Vgl. Marie-Luise Recker: Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland. Der Deutsche Bundestag 1949-1969, Berlin 2018, hier zur Wehrgesetzgebung 574-591.
Holger Löttel