Katharina Grannemann / Sven Oleschko / Christian Kuchler (Hgg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung der kognitiven Funktion von Sprache, Münster: Waxmann 2018, 226 S., 15 s/w-Abb., 10 Tbl., ISBN 978-3-8309-3619-0, EUR 29,90
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Die Reflexion des Verhältnisses von Sprache zu Vergangenheit und Geschichte ist kein neues Phänomen. In der Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie wird seit langer Zeit darüber diskutiert, welche Bedeutung der Sprache für historische Erkenntnisprozesse beigemessen werden kann. Auch in der Geschichtsdidaktik ist die "Hinwendung zur Sprache" [1] nicht erst eine Erscheinung der letzten Jahre nach dem 'PISA-Schock'. Man denke etwa an die Beiträge im bereits 1982 von Siegfried Quandt und Hans Süssmuth herausgegebenen Sammelband 'Historisches Erzählen'. Darin wird "Sinnbildung über Zeiterfahrung" [2] nicht nur als mentale Leistung des Geschichtsbewusstseins, sondern auch als Sprachhandlung mit kommunikativer Funktion modelliert und vor diesem Hintergrund mit der "narrativen Kompetenz" [3] eine sprachbezogene Kompetenz zum vorrangigen Ziel historischen Lernens erklärt. In gewisser Weise kann man dies bereits als Forderung nach 'Sprachbildung im Geschichtsunterricht' verstehen.
Die geschichtsdidaktische Diskussion zur Verbindung von Sprache und historischem Lernen besteht also schon recht lange und doch kann man in den letzten Jahren - vor allem seitdem im Gefolge der Vergleichsstudien PISA und TIMMS Forderungen nach "durchgängiger Sprachbildung" [4] in aller Munde sind - eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit der Sprachlichkeit des Lernens im Geschichtsunterricht beobachten. Dabei wird die Verbindung von Sprache zu historischem Denken und Lernen nicht nur aus rein geschichtsdidaktischer oder geschichtstheoretischer Perspektive betrachtet, sondern zunehmend unter Zuhilfenahme von theoretischen und methodischen Anleihen anderer Disziplinen (etwa der Lese- und Schreibdidaktik oder der Sprachwissenschaft). [5] Beim Thema Sprachbildung im Fach hat die Geschichtsdidaktik somit in jüngster Zeit immer wieder Bereitschaft gezeigt, verstärkt über die eigenen Fachgrenzen hinauszugehen. Dabei wurde in einer Reihe vielversprechender geschichtsdidaktischer Publikationen deutlich: Mit dem Vorhaben 'Sprachbildung im Fach' theoretisch und empirisch zu fundieren, hat sich für die Geschichtsdidaktik ein weites und herausforderndes Aufgabenfeld aufgetan.
Der Herausforderung hat sich auch der 2018 von Katharina Grannemann, Sven Oleschko und Christian Kuchler herausgegebene Sammelband 'Sprachbildung im Geschichtsunterricht' angenommen und sich dabei dezidiert der kognitiven Funktion von Sprache gewidmet. Der Band besteht aus einem einleitenden Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber und insgesamt zehn Beiträgen. Im Vorwort betonen die Herausgeberinnen und Herausgeber - neben einer Vorstellung der einzelnen Beiträge - die Bedeutung von Sprache und ihrer kognitiven Funktion für historisches Lernen und versprechen, dass dieser Band aus vielen unterschiedlichen Perspektiven "Forschungsdesiderate für die Disziplin Geschichtsdidaktik" aufgreifen wird (8).
Dieses Versprechen wird überzeugend eingelöst: Durch die theoretische und empirische Auseinandersetzung mit der kognitiven Funktion von Sprache in historischen Lehr-Lern-Prozessen trägt der Sammelband zur immer noch ausstehenden "Systematisierung des Zusammenhangs von Sprache, historischem Denken und historischem Lernen" [6] bei.
Die Beiträge von Saskia Handro und Alexander Heimes sorgen dabei für eine theoretische Fundierung des Zusammenhangs von Sprache und Fach. Handro erörtert in ihrem theoretischen Zugriff die Spezifik des Zusammenhangs von Sprache und historischem Lernen und macht auf die damit verbundenen Herausforderungen aufmerksam. Heimes zeigt am Beispiel des bilingualen (Geschichts-)Unterrichts, wie die Integration von Sprache und Inhalt theoretisch (etwa mit Ansätzen aus der Sprachwissenschaft) untermauert werden kann und sieht theoretische sowie methodische Übertragungsmöglichkeiten von bilingualem zu einsprachigem Geschichtsunterricht.
Weiterhin enthält der Band zahlreiche Beiträge, die sich mit den sprachlichen Ebenen des Geschichtsunterrichts auseinandersetzen. [7] Dabei werden die Sprachen der Lernenden sowie der Lehrenden in den Mittelpunkt theoretischer Überlegungen (Barsch) und empirischer Analysen gestellt (Hartung, Oleschko, Matschke). Olaf Hartung gibt empirische Einsichten in die sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, indem er untersucht, welche Art der sprachlichen Handlungen und kognitiven Operationen Schülerinnen und Schüler beim Schreiben leisten. Gesprächsanalytisch untersucht Katharina Matschke, wie Worterklärungen im Geschichtsunterricht interaktiv hergestellt werden und geht mit der Analyse von mündlicher Unterrichtskommunikation ein seit langem bestehendes Desiderat an. Katharina Grannemann erörtert Möglichkeiten und Kriterien zur sprachsensiblen Gestaltung von Schulbüchern, wodurch die Sprache der Lehr- und Lernmaterialien in den Fokus gerät. Ein weiterer Schwerpunkt des Sammelbands liegt auf der Initiierung von sprachlichen und kognitiven Prozessen durch Lernaufgaben und Arbeitsaufträge (Mägdefrau / Michler, Altun / Günther, Sieberkrob).
Bemerkenswert ist, aus wie vielen verschiedenen - und für die Geschichtsdidaktik teilweise neuen - Blickwinkeln das Thema Sprachbildung im Geschichtsunterricht betrachtet wird. Saskia Handro nimmt den Zusammenhang von Sprache und Fach in den Fokus ihres Beitrags, indem sie diesen aus geschichtstheoretischer, geschichtskultureller und geschichtsdidaktischer sowie linguistisch-sprachdidaktischer Perspektive beleuchtet. Aus dem Blickwinkel der Sonderpädagogik gibt Sebastian Barsch theoretische Einsichten zur Sprachbildung in inklusiven Settings und erörtert dabei nicht nur die Herausforderungen, die (generell) mit Sprachbildung im Fach verbunden sind, sondern zeigt auch Möglichkeiten zur individuellen Förderplanung mit Hilfe des CLIL-Konzeptes auf. Tülay Altun und Katrin Günther fragen, was Lernende beim Lösen einer Begründe-Aufgabe leisten müssen und entwickeln für die Analyse eines solchen Arbeitsauftrags einen "funktional-pragmatischen" (161) Zugang. Eine neue Perspektive eröffnet etwa Sven Oleschko der Geschichtsdidaktik, indem er aus Sicht der Intersektionalitäts- und 'beliefs'-Forschung auf Sprachprozesse im Geschichtsunterricht blickt und darauf aufmerksam macht, dass die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen im Geschichtsunterricht von den (vorwissenschaftlichen) Vorstellungen ("beliefs" (49)) der Lehrkräfte abhängt.
Durch die verschiedenen Beiträge des Sammelbands wird die Spezifik des Zusammenhangs von Sprache und historischem Denken herausgestellt. Der Geschichtsunterricht zeichnet sich zwar nicht durch eine eigene Fachsprache aus und doch ist historisches Denken auf Sprache angewiesen, denn die kognitiven Operationen des Fachs lassen sich im Wesentlichen nur in und mittels Sprache realisieren. Dadurch kommt Sprachbildung im Geschichtsunterricht eine besondere Bedeutung zu. Allerdings - und das betonen nahezu alle Beiträge des Bandes - bleibt Sprachbildung im Geschichtsunterricht dann eine "Leerformel" (14), wenn sprachliches Lernen nicht auch gleichzeitig fachliche Lernprozesse anbahnt. Deutlich wird in zahlreichen Beiträgen: Von Seiten vieler verschiedener Akteure braucht es Fähigkeiten zum sprachsensiblen Handeln, um diesem besonderen Verhältnis von Sprache und historischem Denken Rechnung tragen zu können. So müssen Lehrkräfte - darauf weisen Barsch und Oleschko hin - über sprachbezogene Lehrkompetenzen verfügen und das nicht nur zur unterrichtlichen Umsetzung sprachfördernder Maßnahmen, sondern auch, um bereits "vor [der] Planung" (97) die nötigen Förderbedarfe "konsequent subjektorientiert" (95) zu diagnostizieren. Die Ergebnisse der Studie von Jutta Mägdefrau und Andreas Michler - die mit der Untersuchung zu von Lehrerinnen und Lehrern konstruierten Lernaufgaben ein Desiderat angehen - weisen ebenfalls darauf hin, dass Lehrkräfte Kenntnisse zum Zusammenhang von Sprache und Kognition brauchen, um Arbeitsaufträge gestalten zu können, die "Denkprozesse zur Erreichung fachlicher Ziele" (138) aktivieren können.
Damit verbunden zeigt der Band weiterhin bestehende Aufgabenfelder für die Geschichtsdidaktik und auch für die Lehrerbildung der zweiten Phase an: Dringend notwendig ist laut Saskia Handro die Erarbeitung "methodischer Wege" (35) zur Förderung der narrativen Kompetenz. Auch Hartung weist diesbezüglich auf die Notwendigkeit hin, Lernsettings zu entwickeln, die "die Integration von fachlichen Inhalten, Diskursfunktionen, Textsorten und Sprachmitteln" (86) möglich machen. Weiterhin fordern etwa Barsch und Oleschko, dass Universitäten und Lehrerbildungszentren das Thema 'Sprach- und Diversitätssensibilität' in ihre Curricula aufnehmen, um so bereits Lehramtsstudierenden und -novizinnen und -novizen, die Chance zu geben, "eine sprachsensible Haltung aufbauen [zu] können" (94). Auch Mägdefrau und Michler verweisen auf die Notwendigkeit interdisziplinär angelegter Lehrveranstaltungen, in denen "frühzeitig das Denken in fachsystematischen Zusammenhängen mit dem Lehren des Fachs und dem (Schüler-)Lernen im Fach" (153) verknüpft wird. In der Sensibilisierung angehender Lehrerinnen und Lehrer für den Zusammenhang von Sprache und Fach scheinen hingegen schon erste Anfänge gemacht zu sein. So stellt Matthias Sieberkrob im Zuge seiner theoretischen Herausarbeitung von Hinweisen zur Entwicklung von sprachbildenden Aufgaben ein Instrument zur Analyse von Lernaufgaben vor, das "Studentinnen und Studenten befähigt [...], Aufgaben aus ihren Fächern mit Blick auf die fachlichen und sprachlichen Anforderungen zu analysieren" (131).
Trotz weiterhin bestehender Aufgaben lässt sich insgesamt an diesem gelungenen Sammelband eines sehen: Die theoretische Fundierung von Sprachbildung im Geschichtsunterricht schreitet voran und ein vielversprechender Anfang in der empirischen Erkundung des Zusammenhangs von sprachlichem und fachlichem Lernen ist gemacht. Nun gilt es konkrete Konzepte zur Sprachförderung im Fach zu entwickeln und deren Eignung zu überprüfen. Der Sammelband 'Sprachbildung im Geschichtsunterricht' kann dafür eine Grundlage sein.
Anmerkungen:
[1] Hilke Günther-Arndt: Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik - Alte Fragen und neue Antworten, in: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Geschichte und Sprache (= Zeitgeschichte, Zeitverständnis; Bd. 21), Berlin 2010, 17.
[2] Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Siegfried Quandt / Hans Michael Baumgartner (Hgg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982, 134.
[3] Ebenda, 139.
[4] Ingrid Gogolin u.a.: Durchgängige Sprachbildung: Qualitätsmerkmale für den Unterricht, Münster 2011.
[5] Etwa bei: Marcel Mierwald / Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. Theoretische Fundierung und empirische Annäherungen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), 104-120 oder Olaf Hartung / Josef Memminger: Schreibend Geschichte lernen. Mehr als ein "mündliches Fach" - die Vielfalt des Schreibens im Geschichtsunterricht entdecken, in: Geschichte lernen 30 (2017), Heft 176, 2-11.
[6] Saskia Handro: Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts, in: Michael Becker-Mrotzek u.a. (Hgg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen, Münster 2013, 317-333, hier 319.
[7] Die Sprachebenen des Geschichtsunterrichts hat Saskia Handro analytisch voneinander unterschieden, siehe: Ebenda, 320f.
Max-Simon Kaestner