Christian Kuchler: Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980-2019, Göttingen: Wallstein 2021, 275 S., 13 Abb., ISBN 978-3-8353-3897-5, EUR 26,00
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Auschwitz-Birkenau, größtes Mordlager des Holocaust mit 1,1 Millionen jüdischen Todesopfern, Konzentrationslager für vor allem polnische politische Häftlinge, universelles Symbol eines meist als maschinell (etwa Seiten 13, 163 - "tausendfach industriell") qualifizierten deutschen Massenmordes - dieser Ort ist seit einem runden Jahrzehnt das Reiseziel von zehntausenden deutschen Schülerinnen und Schülern. Sie fügen sich ein in Heerscharen weiterer Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, die Auschwitz in der Hauptreisezeit übervölkern; 2,1 Millionen Besuchende waren es allein im Jahr 2019 (108). "Auschwitz" ist zum zentralen "Lernort" für schulische Exkursionen geworden. Wer zwischen der lastenden Symbolik des Zeit und Raum scheinbar entrückten Areals und der pädagogischen Programmatik des "außerschulischen Lernorts" einen zumindest inhärenten Widerspruch ausmacht, wird das vorliegende Buch Christian Kuchlers mit Interesse zur Hand nehmen. Denn die große Wertschätzung, die solche Exkursionsziele in der Politik genießen - noch unlängst wurden sie als vermeintliches Antidot zu Rechtsradikalismus und Antisemitismus von höchsten Stellen empfohlen -, wird durch den Ertrag des Gedenkstättenbesuchs keineswegs bestätigt, sofern dieser überhaupt empirisch greifbar ist.
Kuchlers Studie ist eine Geschichte des 'Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau', wie es heute heißt, und des dorthin führenden Exkursionstourismus; eine Momentaufnahme von "Wahrnehmungen der Gedenkstätte" und ihrer vermeintlichen Authentizität durch Schülerinnen und Schüler in der jüngsten Zeitgeschichte; eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Virtualisierung von historischen Orten infolge der Corona-Epidemie; schließlich eine Reihe von Empfehlungen für Gedenkstättenexkursionen. Der im Untertitel der Monographie aufgezogene Zeitrahmen von 1980 bis 2019 wird von der Geschichte der Gedenkstätte und ihrer Besuchenden abgedeckt (39-107), nicht aber von der "Rezeption" (108-209) durch jugendliche Besucherinnen und Besucher. "Virtuelle Realitäten" (210-230) sind gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen, wie natürlich auch die Empfehlungen des letzten Kapitels auf die Zukunft zielen (231-251). Thematische Interessen überwiegen also deutlich die historischen Aspekte dieser Studie im Schnittfeld von Politik- und Geschichtsdidaktik.
Christian Kuchler geht einleitend von einer "idealtypische[n] Passung des historischen Ortes zum Geschichtsunterricht" aus, weil Auschwitz alle geschichtsdidaktischen Anforderungen an einen solchen Ort erfülle (11-12). Die hieraus abgeleitete Frage nach dem "Annäherungsprozess" der Jugendlichen und den möglichen Auswirkungen des Gedenkstättenbesuchs auf ihr Geschichtsbewusstsein wird an mehr als 600 Reiseberichte deutscher Auschwitz-Besuchenden adressiert, die Kuchler überwiegend erstmals einsehen konnte, vor allem im Archiv der 'Stiftung Erinnern ermöglichen', einer ursprünglich privaten nordrhein-westfälischen Initiative (17-18). Später stellt sich heraus, dass diese oft mit großem zeitlichem Abstand zum Geschehen abgefassten und soziale Erwünschtheit seitens der jeweiligen Schule und ihrer Lehrkräfte reflektierenden "Dokumentationen" für die Forschung unbrauchbar seien und diese sich stattdessen ausschließlich auf rund 50 exkursionsbegleitende Notate nordrhein-westfälischer Schülerinnen und Schüler gestützt hat (127-128).
Die Geschichte der Gedenkstätte Auschwitz und ihrer geschichtspolitischen Kontexte belegt zunächst die anfängliche nationalpolnische (kommunistisch-martyrologische und zugleich katholische) Indienstnahme des Lagers unter weitgehender Ausblendung von Birkenau. Die Wende zur Holocaust-Erinnerung wurde 1979 mit dem namensgebenden Fernsehmehrteiler in den USA eingeleitet und von deutschen kirchennahen Einrichtungen wie 'Aktion Sühnezeichen' vorangetrieben. Die von ihnen finanzierten Auschwitz-Besuche waren in den 1980er-Jahren ein wichtiger Teil dieses vergleichsweise plötzlichen Interesses am jüdischen Schicksal, dessen im Stammlager drastisch zur Schau gestellte Überreste die ersten deutschen Schülerkohorten emotional überwältigten. Die Internationalisierung der Besucherströme nach dem Ende des Kalten Krieges verstärkten den Trend zur "Medien- und Wissensikone" (55), aber auch zur emotionalisierenden Musealisierung von Holocaust-Artefakten (57). Seit der letzten Jahrhundertwende spielen im Staatlichen Museum Zielsetzungen der Holocaust Education eine wachsende Rolle, damit aber auch eine Universalisierung bzw. Amerikanisierung der Erinnerungs- und Erzählformen neben der fortbestehenden nationalen Mission der ursprünglichen Gedenkstätte.
Der Befund der Quellenauswertung für das vergangene Jahrzehnt zeigt eine in dieser Eindeutigkeit überraschende Emotionalität der jugendlichen Besucherinnen und Besucher, die meist zu zwei- oder mehrtägigen Aufenthalten nach Auschwitz gereist waren (130). Viel deutlicher als in den 1980er-Jahren dominieren Angst vor der konkreten Begegnung mit dem historischen Ort, Trauer infolge der Begegnung mit persönlichen Verfolgungsschicksalen und Überwältigtsein durch die Begegnung mit dem Riesengelände von Birkenau, das im Kalten Krieg nicht zugänglich war und von den Jugendlichen nicht ganz zutreffend als zusammenhängender Tatort des Massenmordes wahrgenommen wird. Die Unterscheidung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager, die Kuchler ohne Angabe von Quellen als NS-kontaminiert kritisiert (143), ist eben doch wichtig, wenn die Fehleinschätzung von Lernenden vermieden werden soll, einen "KZ-Besuch in Birkenau" (166) absolviert zu haben.
Zu Recht kritisiert Kuchler solche Folgen allgegenwärtiger Authentizitätsunterstellungen, die Zeitdifferenzen einebnen und etwa von der Tatsache absehen, dass das von den Jugendlichen sakralisierte Lagertor von Auschwitz I ("Arbeit macht frei") ein Replikat und "Auschwitz" insgesamt ein im Laufe der Jahrzehnte stark überformtes Museum ist, mithin ein Bestandteil von Geschichtskultur. Jedoch entrinnt der Verfasser seinerseits nicht den Gefahren der Objektivierung (etwa Seite 204: "Wahrnehmung der Tatsächlichkeit der [...] verübten Verbrechen"). Und überhaupt: Woher wissen wir, dass die verwendeten Quellen nicht sozial erwünschte Antworten repräsentieren und die omnipräsente Angst der Schülerinnen und Schüler im Vorfeld des Museumsbesuchs nicht auch der Befürchtung entspringt, emotional unberührt zu bleiben? Um zwischen authentischer Gefühlsäußerung und Selbstdisziplinierung unterscheiden zu können, wäre ein Vergleich mit den zahlreich vorliegenden späteren Exkursionsberichten erforderlich gewesen, die hier aber unterblieben ist.
Immerhin deuten die Resultate einer vom Verfasser durchgeführten Nachbefragung von über 30 ehemaligen Auschwitz-Besuchenden (198) auf die Dominanz solcher Deutungsanforderungen und die fehlende Nachhaltigkeit des Lernens am historischen Ort hin, vom Globalziel eines "reflektierten Geschichtsbewusstseins" ganz zu schweigen. Denn die Jugendlichen (auch solche mit Migrationshintergrund) neigen dazu, der erzwungenen (häufig wohl erstmaligen) Begegnung mit der eigenen Nationalgeschichte und nationalen Identitätszuschreibung durch die entschiedene Distanzierung von den Tätern und pädagogisch erwünschte Identifikation mit den Opfern auszuweichen, ohne dass dies geschichtsunterrichtlich hinterfragt wird (180).
Überzeugend sind Kuchlers Überlegungen für einen pragmatischen Einsatz von Virtual Reality-Anwendungen wie "Inside Auschwitz - Das ehemalige Konzentrationslager in 360°", um Exkursionen nach Auschwitz besser vor- und nachzubereiten (210). Die Rezeption solcher digitalen Medien bedürfe näherer Forschung, die bedingt durch Corona noch nicht stattfinden konnte. Bisherige Ergebnisse anderer Historikerinnen und Historiker deuten immerhin darauf hin, dass solche Angebote nicht als Elemente von Sachaufklärung, sondern als Erzählanlässe wahrgenommen und genutzt werden, möglicherweise also im vorliegenden Fall genauer über das NS-bezogene Geschichtsbewusstsein von Lernenden Auskunft geben würden, als es die Beforschung von Exkursionsberichten leisten kann.
Den Schlussfolgerungen von Christian Kuchler wird man größtenteils zustimmen: Historisierung der Orte, Pluralisierung der Exkursionsziele, bessere Nutzung von Emotionen als Lernantrieb statt -behinderung, Opferzentrierung und Täterforschung vor Ort. Heikel ist sein Plädoyer für eine Internationalisierung des Gedenkens, das längst stattfindet und unerwünschte Folgen gezeitigt hat. In der Bundesrepublik ist die vom Verfasser beschriebene Verdrängung der eigenen Nationalgeschichte das mögliche Einfallstor schrecklicher Vereinfachungen. In Polen beobachten wir die anti-internationale Rückkehr zu nationalkonservativen, teils offen antisemitischen offiziösen Geschichtserinnerungen, die auch vor Auschwitz nicht Halt machen wird.
Sollen vor diesem Hintergrund Gedenkstättenexkursionen tatsächlich noch "integraler Teil des schulischen Geschichtsunterrichts" sein (248-249)? Wie kann das "Gedenken als bleibende Aufgabe" (249) in die Zukunft fortgeschrieben werden, ohne sich von den Zielen eines kritischen Geschichtsbewusstseins vollends zu verabschieden? Müsste man nicht vor dem Hintergrund der in diesem Buch dargestellten Befunde (besonders auf den Seiten 236-237) die These wagen, dass sich Reisen nach Auschwitz geschichtskulturell überlebt haben und aus den schulischen Curricula gestrichen werden können?
Christian Kuchler hat ein wichtiges Buch geschrieben, das solche Fragen aufwirft. Sie bedürfen der unvoreingenommenen Diskussion, zu der die gegenwärtige Pandemie mit ihren Reiseeinschränkungen einen willkommenen Anlass bietet. Es geht nach dieser Zäsur um künftige Gedenkstättenexkursionen - eher nicht nach, sondern propter und post Auschwitz.
Thomas Sandkühler