Wolfgang Benz (Hg.): Antisemitismus in der DDR. Manifestationen und Folgen des Feindbildes Israel, Berlin: Metropol 2018, 275 S., ISBN 978-3-86331-436-1, EUR 19,00
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Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und nahezu 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer belegen Umfragen einen deutlichen Anstieg antisemitischer Einstellungen und Taten [1]. Die Ursachen dafür wurzeln sowohl in der deutschen Vergangenheit aller deutscher Staaten des letzten Jahrhunderts als auch in der Gegenwart.
Die ausschließlich auf die DDR fokussierte Publikation, herausgegeben vom langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, stellt Ergebnisse eines einjährigen Forschungsprojekts vor, das 2017/18 am Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung Berlin durchgeführt wurde. Der Band umfasst neben Einleitung und Zusammenfassung des Herausgebers Aufsätze über Israel in den Medien der DDR (Gaubert, Escher, Bistrovic) und jüdisches Leben im ostdeutschen Staat (Wenzel, Sattig, Reimer/Weigel, Schmidt) sowie kritische Betrachtungen zum Forschungsgegenstand (Königseder/Wetzel).
Während die Beiträge mehrheitlich auf bereits bekannten Forschungsergebnissen aufbauen und Fakten bzw. Zitate der einschlägigen Literatur nutzen, betreten einige Untersuchungen, beispielsweise über die ostdeutsche TV-Sendung "Schwarzer Kanal" (Escher), wissenschaftliches Neuland. Auffällig ist, dass von den 1519 Sendungen des "Schwarzen Kanals" (21. März 1960 bis 30. Oktober 1989) "nur" 21 benannt werden, die - mit einer Ausnahme - aus den Jahren 1972-1983 und somit aus einer Periode stammen, in der sich das israelisch-arabische Spannungsgeflecht durch besondere Virulenz auszeichnete.
Wie in anderen Staaten existierten in der DDR unterschiedliche jüdische Identitäten, resultierend aus pluralen Erfahrungen sowie diversen politischen und weltanschaulichen Überzeugungen. Die zitierten Positionen von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Ostberlins (Sattig) wecken freilich den Wunsch des Lesers, mehr über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum jüdischen Selbstverständnis in Westdeutschland zu erfahren. Der vollständige Abdruck der Interviews hätte Lücken schließen können. Reimer/Weigel betonen in ihrem Beitrag, dass "Menschen aus jüdischen Familien das kulturelle, intellektuelle und später auch politische Leben der DDR maßgeblich [geprägt haben], ohne dabei als Juden oder für das jüdische Leben in der DDR sichtbar zu werden" (186). Sie verweisen auf Veränderungen in den jüdischen Gemeinden durch Zuzug bzw. Abwanderung und fragen nach Auswirkungen der "großen Migrationswellen 1953, 1967/68 und 1989/90" (186). Unklar bleibt, welche "Welle" sie für 1967/68 zu erkennen meinen. Details über die Einwanderung sowjetischer Juden in die DDR nach dem Mauerfall fehlen.
Die "Kritischen Betrachtungen zum Forschungsgegenstand" (Königseder/Wetzel) sind insbesondere auf das Verhältnis von Antisemitismus und Antifaschismus in der DDR fokussiert. Sie geben einen Überblick über themenrelevante Publikationen und zeichnen sich durch einen sachlichen Stil aus. Die Autorinnen distanzieren sich von Schriften, die auf die Dämonisierung der DDR gerichtet waren bzw. "den ostdeutschen Staat in denunziatorischem Stil und mit großer Freude an Polemik [...] als einen Hort des Antisemitismus" zeichneten (215 f.). Verwiesen wird jedoch auch auf Tendenzen der "Schönfärbung" von DDR-Realitäten (220). Die Analyse ergäbe, dass "die Debatte häufig [...] entlang der Herkunft der beteiligten Protagonisten verlief und noch immer verläuft"; sie mündet in der Schlussfolgerung, dass antisemitische Vorurteile die Systembrüche überdauerten und daher "von aktuellem Interesse und Relevanz" seien (231).
Wichtige Kontexte des Untersuchungsgegenstands - etwa Kalter Krieg, sowjetische Innen- und Außenpolitik, osteuropäische Nahostinteressen, deutsch-deutsche Beziehungen - wie auch die unterschiedlichen Phasen im Verhältnis der DDR zum Staat Israel - bleiben im Band unterbelichtet. Späte Korrekturen ostdeutscher Politik, wie der Israel-Besuch des DDR-Staatssekretärs für Kirchenfragen im Januar 1989 oder die Rücknahme der DDR-Zustimmung zur UN-Antizionismus-Resolution von 1975, fehlen. Dagegen enthält der Sammelband wiederholt Redundanzen, so bezüglich des Slánský-Prozesses und der von der SED-Führung daraus gezogenen "Lehren" (30, 97 f., 133 f., 196 f., 242 f.). Sachfehler sollten bei einer Zweitauflage vermieden werden. Der Sechstagekrieg fiel nicht in das Jahr 1974; die zitierten 550 Juden flohen nicht seit Gründung der DDR in den Westen, sondern im ersten Quartal 1953; die Bundesrepublik nahm keineswegs Ende der 1950er Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel auf, sondern erst 1965.
Die Schlussbemerkungen von Wolfgang Benz sind weitgehend nachvollziehbar, sollten ob ihrer Absolutheit mitunter jedoch hinterfragt bzw. in Bezug auf den aktuellen Antisemitismus ergänzt werden. Stand der "misstrauische Paternalismus" des ostdeutschen Regimes primär in der "verschwörungstheoretischen Tradition des Antisemitismus" (266 f.) oder wurde er nicht zeitgleich auch gegenüber christlichen Religionsgemeinschaften geübt? Die DDR-Nahostpolitik implizierte zwar die Parteinahme für Palästinenser und arabische Staaten, war jedoch nicht - wie behauptet - "bedingungslos" (267). Sie war stets von realpolitischen Interessen geleitet. In einem 1970 formulierten "Maßnahmeplan" des SED-Politbüros für die Entwicklung der Beziehungen zur PLO hieß es beispielsweise, dass "nationalistische Konzeptionen [...], die eine Liquidierung des Staates Israel beinhalten", nicht unterstützt würden [2]. Zutreffend ist die These, dass der Vorwurf, Israel begehe Völkermord an den Palästinensern, eine Relativierung des Holocaust implizierte. Daraus jedoch den "besonderen Erfolg des Rechtspopulismus auf dem Territorium der ehemaligen DDR" (270) abzuleiten, erscheint zu kurz gedacht und zu absolut formuliert.
Auch die Aussage, "dass jüdische Friedhöfe als feindliches Territorium, als israelische Exklaven, mit dem Israelbild als feindlichem Land korrespondierend, wahrgenommen wurden" (272) und somit eine direkte Wechselwirkung von Israelhetze und Friedhofsschändungen existierte, erscheint fragwürdig. Juden wurden in der offiziellen DDR-Propaganda - mit Ausnahme der Jahre 1952/53 - vor allem als Opfer dargestellt; der aus der Schoah resultierende deutsche Schatten über dem Staat Israel wurde jedoch bewusst ignoriert. Die DDR-Propaganda, die stets die "Klassenfrage" thematisierte, vertrat als Feindbild die "israelischen Imperialisten", unterschied allerdings zwischen Volk und Regierung und richtete den Sympathiebonus auf israelische Kommunisten oder linke Friedensaktivisten.
Der aktuelle Diskurs über Antisemitismus und Antizionismus - auch bezüglich des Erbes der DDR - scheint in vielfältiger Hinsicht einseitig und instrumentalisiert. Zwischen beiden Erscheinungsformen bestehen zwar durchaus ideelle und faktische Beziehungen. Sie weitgehend gleichzusetzen, geht allerdings an der Kausalität ihrer Herausbildung und Wirksamkeit vorbei. Da die DDR nach 1990 häufig als antisemitisch dargestellt wurde, ist die Frage nach der Zielsetzung derartiger Vorwürfe berechtigt. Von der offen dokumentierten Absicht, mit dem "antifaschistischen Mythos der DDR" abzurechnen und den ostdeutschen Staat delegitimieren zu wollen (verwiesen sei auf die "Deutschland-Akte" von Michael Wolffsohn), hebt sich der vorliegende Sammelband indes wohltuend ab - auch wenn nur eine mögliche Wirkungslinie für den aktuellen Antisemitismus benannt wurde. In die Verantwortung genommen werden vorwiegend "die Traditionen und Wirkungen judenfeindlicher Ressentiments in der DDR, die sich vor allem als Folge des verordneten Feindbilds Israel manifestierten" (7). Kam es aber nach 1990 nicht auch zu sozialen Verwerfungen vielfältiger Art oder ideellen Identitätsverlusten in der ostdeutschen Bevölkerung, die rechtem Gedankengut, insbesondere xenophobischen Tendenzen, Auftrieb gaben?
Anmerkungen:
[1] https://ec.europa.eu/germany/news/20190122-umfrage-antisemitismus_de (28.04.2019)
[2] Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1998, 277.
Angelika Timm