Peter Niederhäuser / Regula Schmid Keeling (Hgg.): Querblicke. Zürcher Reformationsgeschichten (= Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich; Bd. 86), Zürich: Chronos Verlag 2019, 203 S., 158 Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-0340-1498-4, EUR 48,00
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Hans Ulrich Bächtold (Hg.): Heinrich Bullinger Werke. Vierte Abteilung: Historische Schriften. Bd. 1: Tigurinerchronik, Zürich: TVZ 2018
Sundar Henny: Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Rita Binz-Wohlhauser: Katholisch bleiben? Freiburg im Üchtland während der Reformation (1520-1550), Zürich: Chronos Verlag 2017
Daniela Hacke: Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und Politik in der Alten Eidgenossenschaft (Die Grafschaft Baden 1531-1712), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Alexandra Kess / Judith Steiniger / Reinhard Bodenmann (Hgg.): Heinrich Bullinger Werke. Zweite Abteilung: Briefwechsel. Bd. 17: Briefe von Juni bis September 1546, Zürich: TVZ 2015
Am Ende der Lektüre ist es einem, als hätte man durch ein Kaleidoskop geschaut: Viele, rasch wechselnde Eindrücke. Bunte Bilder, die sich spiegeln. Bekanntes verfremdet. Weniger Bekanntes und Unbekanntes in neuem Licht. Doch es ist nicht leicht das Ganze zu sortieren. Denn so ganz von allein fügen sich die Beiträge nicht "zu einem schillernden Prisma einer Zeit im Umbruch zusammen" (10). Die Aufsätze des Sammelbandes nehmen ihren Ausgangspunkt bei einzelnen Bildern, Schriftstücken und Artefakten. Sie erzählen deren Geschichte, beleuchten Hintergründe und ordnen ein. Oft ist der Gegenstand dabei eher der Aufhänger für einen größeren Erzählzusammenhang. Damit entsteht ein doppelter Eindruck: Einerseits stark visuell über viele sehr interessante Abbildungen, andererseits von den Geschichten zu den Gegenständen, geordnet unter fünf Überschriften: Stiftungs-Geschichten, Schrift-Geschichten, Streit-Geschichten, Aufbruchs-Geschichten, Erinnerungs-Geschichten. Wobei sich manche Geschichte vielleicht auch anders zuordnen ließe.
Auf eine kurze, geschlossene Darstellung der gängigen Erzählung der Reformation in Zürich wird verzichtet. Nur eine zweiseitige Übersicht präsentiert kurz die Eckdaten von der Geburt Zwinglis 1484 bis zum Jahr 1533, der "Schaffung des Obmannamts im ehemaligen Barfüsserkloster von Zürich, das die säkularisierten Klostergüter verwaltet." (13) Die größeren Linien und historischen Vorgänge werden von den Verfassern je und je eingespielt. Doch auf eine geschlossene Darstellung kommt es den Herausgebern eben auch nicht an. Mit ihrer Vorgehensweise brechen sie vielmehr gängige Erzählmuster auf und lassen tatsächlich nicht nur einen Quer- sondern einen anderen Blick auf die Züricher Reformation zu. Gilt die lutherische Reformation gemeinhin als sinnlich und bilderfreundlich und die schweizerische als das genaue Gegenteil, so erfährt man in diesem Band Storys aus dem prallen reformierten Leben. Das fängt beim Menschen Zwingli an und endet bei den wilden Phantasien über den Tod des letzten Mönchs von Rüti.
Auch die beiden bekanntesten Geschichten tragen zu diesem Eindruck bei: Der Fastenbruch vom 9. März 1522 als "Anti-Fasten-Party" (92) und die Geschichte um "Zwinglis Waffen" (107). Zwar war Nüchternheit theologisches Programm. Doch der Band lässt erkennen, wie mittelalterliche Frömmigkeit nicht von heute auf morgen verschwand. Wie vieles eher umgebaut und ausgehandelt, denn im Handstreich verändert wurde. Und wie sehr gerade der Rat auf Ordnung und Macht setzte. Materiell profitierte dieser am meisten von der Säkularisation, nicht die Armen. (149)
Wohin purifizierende Bemühungen um die Vergangenheit führen können, zeigt besonders Daniel Gutschers Beitrag über "Zwinglis Kanzellettner im Zürcher Großmünster" (131). Treibende Kraft des Abbruchs 1851 war ausgerechnet die Antiquarische Gesellschaft - im Sinne der "Erhaltung des romanischen Baus" (133). Dabei hatte Zwinglis Kanzellettner einst eine hohe Symbolkraft. Er war aus dem Abbruchmaterial von Altarsockeln aus Zürcher Kirchen errichtet worden, die offenbar gezielt für den neuen Lettner abgebrochen wurden. Kurz: "Die Verkündigung des neuen Glaubens erfolgt auf den aufgeschichteten Trümmern des Alten Glaubens." (133)
Der Umbau der Frömmigkeit lässt sich sehr gut an Wirken und Werk "des Zürcher Stadtchirurgen Jakob Ruf" (151) ablesen. Hildegard Elisabeth Keller hat eingehend über ihn geforscht. Sie präsentiert hier dessen "erfolgreichste Publikation", das "Trostbüchlein" (155). In erster Linie ein Lehrbuch für Hebammen, sollte es auch Schwangere trösten, "indem es sie durch geburtshilfliches Wissen bestärkte und ihnen half, die schwierige Aufgabe des Gebärens zu bewältigen." (151) Keller schreibt: "Dass medizinisches Wissen tröstlich wirken konnte, war neu." Trost wurde nun nicht mehr primär von der Kirche vermittelt, sondern "durch Gott, durch Jesus Christus als einzigen Heilsvermittler, als den ihn die Widmungsanrede im 'Trostbüchlein' explizit anruft" sowie durch "die Hinwendung zum leidenden Mitmenschen" (151). Sie hebt die "Visualisierung durch sprachliche und piktorale Mittel" (156) hervor, die Ruf auch in seinen Inszenierungen als Theaterautor und -regisseur betrieb. Diese Methodik berührt sich mit "Bob Scribners [...] Postulat", dass "eine neue Reformationsgeschichte [...] mit der Erkundung des Sehens" (157) einzusetzen habe.
Dieser Ansatz durchzieht im Grunde das ganze Buch. Historiographisch betrachtet geht es darin um Formen der Geschichtsschreibung und um Erinnerungskultur. Es geht um Alltags-, Sozial-, Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte, weniger um Geistesgeschichte oder Theologie. Das lässt sich nicht über einen Leisten schlagen. Das verbindende Moment wird gerade in den vielfältigen Beiträgen zur Architekturgeschichte deutlich. Sie zeigen auf: Das war einmal da; das ist noch zu sehen; das ist (leider) verschwunden und verloren. Letzteres ist den Zeitläufen, aber auch dem Ereignis und seinen Folgen selbst geschuldet: Der Reformation in Zürich. Dem wird begegnet mit Sichtbarmachung - in den beiden letzten Beiträgen mit modernen Mitteln: Da entsteht die "Ägidius-Kapelle in Unterleimbach" (188), deren Reste 1946 abgebrochen wurden, als Computerbild neu. Und auch "St. Stephan und St. Anna" als "Verlust der Stadtgeschichte durch die Reformation" (197) gewinnen virtuell Gestalt. Verbunden mit dem Wunsch, sie mögen "ins Bewusstsein der Zürcher Stadtgeschichte zurückgeholt [...] werden." (201). Ob das, wie bei St. Stephan, gelingen kann, nach hunderten von Jahren?
Als "Lesebuch" für "ein breites Publikum" (10) ist die vorliegende Publikation sehr zu empfehlen. Zumindest dann, wenn es gute Grundkenntnisse über den Verlauf der Zürcher Reformation besitzt und ein stadtgeschichtliches Interesse hat. Als "Jubiläumsbuch" bieten die "Querblicke" (10) mehr als Eigengeschichtsschreibung. Sie sind wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und lohnen sich so auch für ein Fachpublikum, welches womöglich viel über die lutherische, aber vergleichsweise wenig über die schweizerische Reformation weiß.
Sebastian Kranich