Dominik Burkard / Jacob Tonner: Reformationsgeschichte katholisch. Genese und Rezeption von Joseph Lortz "Reformation in Deutschland" (1940-1962), Freiburg: Herder 2019, 574 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-451-38496-7, EUR 68,00
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Als der Kirchenhistoriker Joseph Lortz (1887-1975) kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1940 sein zweibändiges Werk Die Reformation in Deutschland publizierte, konnten weder Autor noch Verlag die langjährige Rezeption sowie die daraus resultierenden theologischen und kirchenpolitischen Kontroversen abschätzen. In der bisherigen kirchenhistorischen Forschung ist man sich einig, dass die Reformationsgeschichte, die Lortz vorlegte, innovativ war und die katholische Sicht auf Luther und die Ereignisse der Reformation nachhaltig reformierte. Erstmals nun analysieren in der vorliegenden Studie der Kirchenhistoriker Dominik Burkard und der Theologe Jacob Tonner Genese und Rezeption der Lortzschen Reformationsgeschichte und erforschen damit einen Meilenstein in der katholischen Reformationsgeschichtsschreibung.
Bereits in ihrer Einleitung verweisen die Verfasser auf die Pluralität der von ihnen ausgewerteten Quellen: Korrespondenzen, Rezensionen, römische Zensurakten, Widmungsschreiben und vieles mehr haben Burkard und Tonner ausgewertet, um erstmals Genese und Rezeption der Lortzschen Reformationsgeschichte nachzeichnen zu können. Hierfür wurde die Studie in vier Kapitel untergliedert: Während im ersten Kapitel (15-54) Bio- und Bibliographie von Joseph Lortz im Kontext seines Werkes Die Reformation in Deutschland analysiert und dabei seine besondere Prägung durch den Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle herausgearbeitet werden, widmet sich das zweite Kapitel (55-270) der Veröffentlichung der ersten und zweiten Auflage während der Zeit des Nationalsozialismus. Spätestens in diesem Kapitel wird dem Leser bewusst, wie viele verschiedene Quellen, die bis dato nicht gesichtet wurden, die Verfasser der Studie hierfür ausgewertet haben. Dadurch können sie nicht nur den Weg von der Konzeption bis zur Publikation mit allen Hindernissen durch Zensur und Ablehnung des kirchlichen Imprimatur detailliert nachzeichnen, sondern auch die gezielte Rezensionsstrategie von Autor und Verlag nachweisen, die letztlich eine Entschärfung der Debatte um die Thesen von Lortz mit sich bringen sollte. Die Befunde zu den Rezensionen der ersten Auflage in den Jahren 1940 bis 1945 sind bemerkenswert: Sowohl aus katholischer als auch aus evangelischer Sicht wurde die Aktualität des Werkes angesichts der Situation im Deutschland des Nationalsozialismus betont sowie ein Fortschritt der katholischen Reformationsforschung attestiert. Dieser positiven Bewertung der akademischen Fachwelt stand die Haltung des Heiligen Offiziums und der Jesuiten entgegen, als es um eine zweite Auflage der doppelbändigen Reformationsgeschichte ging: Aufgrund verschiedener Interventionen - unter anderem der Berliner Nuntiatur, der Rezensionen zugesandt wurden, in denen dem Lortzschem Werk nicht nur historisch falsche Behauptungen, sondern auch Beleidigungen gegen Kirche und Papst vorgehalten wurden - und sogar Denunziationen sah sich der zuständige Freiburger Bischof Conrad Gröber, in dessen Bischofsstadt der Herder Verlag angesiedelt war, nicht in der Lage, das Imprimatur für die zweite Auflage zu erteilen. Nach gewissen Revisionen von Vor- und Schlusswort konnte dann letztlich die kirchliche Druckfreigabe erteilt werden und die zweite Auflage der Reformation in Deutschland im Freiburger Verlagshaus Herder erscheinen.
Im dritten Kapitel (271-396) wird Entstehung und Rezeption der dritten und vierten Auflage des Werkes untersucht. Die Herausforderungen hierfür waren in der Nachkriegszeit vielfältig, da im französisch besetzten Freiburg sowohl die Druckerlaubnis der zuständigen Militärbehörde als auch genügend Papier für den Druck des Werkes beschafft werden musste. Neben diesen politischen und ökonomischen Herausforderungen bestand ein weiteres Problem darin, dass die für die zweite Auflage vorgegebene kirchliche Zensur erneut berücksichtigt werden musste, was sich jedoch aufgrund der im Krieg verbrannten Bögen als große Schwierigkeit erwies. Detailliert und quellennah legen die Verfasser dar, wie auch in der Planungsphase der dritten Auflage römische Stimmen laut wurden, die Kritik an der Lortzschen Reformationsgeschichte übten. Eine große Bedrohung für die Reformation in Deutschland stellte die am 12. August 1950 veröffentlichte Enzyklika Humani generis von Papst Pius XII. dar, in der Kritik an bestimmten Richtungen innerhalb der Theologie geübt wurde. Lortz, der ab 1950 eine Professur am neubegründeten Institut für Europäische Geschichte in Mainz erhielt, reiste 1950 und 1952 nach Rom, um dort - vor allem auf Bitten des Paderborner Erzbischofs Jaeger und des Münsteraner Bischofs Keller - Gespräche zugunsten des ökumenischen Miteinanders zwischen Katholiken und Protestanten zu führen. In den 1960er Jahren - vor allem im Kontext der vierten Auflage - wurde für Lortz kein Geringerer als der in Rom für Ökumene zuständige Kardinal Bea zum wichtigen Gesprächspartner, der als Deutscher die ökumenischen Anstrengungen von Lortz zum Dialog von Katholiken und Protestanten teilte. Deutlich wird in den Analysen, dass spätestens mit dem neuen Pontifikat und der Neubesetzung des Freiburger Bischofsstuhl eine deutliche Wende einsetzte, die das kirchenhistorische und ökumenisch ausgerichtete Denken und Publizieren von Joseph Lortz nicht nur akzeptierte, sondern auch mehr und mehr förderte. Dabei wird deutlich, dass - und dies gilt es als wichtigen Ertrag dieser Studie ebenfalls zu dokumentieren - die ökumenischen Entwicklungen am Vorabend des Konzils ohne die Arbeiten, die Joseph Lortz durch seine ökumenisch orientierte katholische Reformationsgeschichtsschreibung erbrachte, wohl anders verlaufen wären.
Das vierte Kapitel der Untersuchung (397-420) fasst die zentralen Ergebnisse der vorausgehenden Seiten zusammen und bündelt die wichtigsten Erkenntnisse. Besonders interessant ist die abschließende kritische Bewertung der Verfasser, ob Lortz "ökumenischer »Überzeugungstäter« oder doch nur ein geschäftstüchtiger »Konjunkturritter«" (418-420) gewesen sei. Das Bild sei - wie so oft - ambivalent und changiere zwischen den beiden Extremen. Interessant ist ihre Beobachtung, dass der faktische Erfolg und die Popularität des Werkes Lortz eher zum Verwalter seines Opus magnum machten, als dass er es wissenschaftlich fortgeführt hätte.
Neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis (421-432) findet sich am Ende der Studie ein umfangreicher Anhang mit einer chronologischen Liste der Rezensionen in den Jahren 1940 bis 1945 (433-437), wichtigen edierten Dokumenten, wie beispielsweise Gutachten und Rezensionen (438-511), und einigen Abbildungen von zentralen Dokumenten der Entstehungsgeschichte des Werkes (512-518). Sorgfältig und detailliert erstellte Biogramme der zentralen Akteure finden sich ebenfalls am Ende der Studie (519-567). Der Band verfügt über ein Personenregister (569-574).
Resümierend sei gesagt: Dominik Burkard und Jacob Tonner legen nicht nur eine hochinteressante und lesenswerte Studie zur Wissenschafts- und Verlagsgeschichte des 20. Jahrhunderts vor, sondern sie zeichnen detailliert und aufschlussreich nach, auf welche Weise konfessionelle Konflikte am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils zwischen Dreisam, Main und Tiber im Bereich theologischer bzw. kirchenhistorischer Forschung ausgetragen wurden. Die Untersuchung leistet jedoch noch mehr, denn die Verfasser ergänzen damit die Aufarbeitung (katholischer) Reformationsforschung sowie ihrer akademischen, kirchlichen und öffentlichen Rezeption um einen wertvollen Beitrag.
Joachim Werz