Uwe Wesel: Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Besatzungszeit bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2019, 276 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-73439-7, EUR 29,80
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Hans Günter Hockerts (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1966-1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden: NOMOS 2006
Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916-1931, London: Allan Lane 2014
Elke Seefried / Ernst W. Becker / Frank Bajohr u.a. (Hgg.): Liberalismus und Nationalsozialismus. Eine Beziehungsgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Das Buch ordnet sich ein in die Reihe von Publikationen, die seit dem 60. Gründungsjubiläum des Bundesverfassungsgerichts seit 2011 erschienen sind. [1] Uwe Wesel, Urgestein linker Kritik an der Verfassungswirklichkeit der Bonner Republik und engagierter Juraprofessor der ehrwürdigen West-Berliner Freien Universität, greift mit seiner Rechtsgeschichte über die Beschränkung auf das höchste Gericht hinaus und versucht, ein Gesamtbild zu entwerfen, das Öffentliches Recht, Verwaltung und Zivilrecht abbildet. Es gebe nach wie vor keine Rechtsgeschichte der Bundesrepublik, sagt er im Vorwort: "Hier ist sie nun." (V) Das Werk bietet eine kompakte Darstellung von 1945 bis 2018, gegliedert in vier Teile. Der erste Teil gilt der Besatzungszeit (1945-1949), der zweite reicht von Adenauer bis zur Großen Koalition (1949-1966), der dritte behandelt die entspannungspolitische und gesellschaftliche Öffnung von 1966 bis zur Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, der vierte Teil die Entwicklung seit 1990.
Die Besatzungszeit begann mit der Frage, ob das Deutsche Reich durch die bedingungslose Kapitulation vom 8. Mai 1945 aufgelöst sei. Als diese Frage mit Nein beantwortet wurde, bildeten sich die Kontinuitätslinien heraus, die die Geschichte der Bundesrepublik durchzogen - die "Stunde der Verwaltung", der Wiederaufbau der Justiz, die "Mitläuferfabrik" der Entnazifizierung. Gegen diese Kontinuitäten standen das Besatzungsrecht und die Aufhebung von NS-Recht, der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher einschließlich der zwölf Folgeprozesse und der Umgang deutscher Gerichte mit NS-Unrecht. Indem es 1945 keinen staatsrechtlichen Bruch gegeben hatte und das Deutsche Reich "fortbestand" (8), wurde der Weg geebnet zur Eingliederung vieler NS-Juristen in das Rechtssystem der Bundesrepublik. Wesel spricht die Unterschiede zur DDR an, wo personelle Kontinuitäten im Rechtswesen eher unterbunden wurden.
Das Dilemma der Wiederaufbauzeit von 1949 bis 1966 wird im zweiten Teil beschrieben: die Verquickung der Kontinuitätslinien aus der Besatzungszeit mit der Neugründung des demokratischen Rechtsstaats. Einerseits sicherten Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht das rechtstaatliche Fundament, andererseits ermöglichten sie Regelungen wie das "131er-Gesetz" über die Wiedereinstellung von Beamten, Angestellten und Arbeitern aus dem öffentlichen Dienst des 'Dritten Reichs', um Hunderttausende alter Nationalsozialisten in den neuen Staat einzubinden. Das war "eine große Geste Adenauers gegenüber den alten Nazis", urteilt Wesel. Adenauers Programm sei "Integration statt Ausgrenzung" gewesen, und nicht zuletzt deshalb hätten die NS-Folgeparteien bald keine Chancen mehr gehabt (53). Dieses zutreffende Argument wird mit den negativen Folgen dieser Integration abgeglichen, denn in den Ministerien, Behörden und der Justiz sei "eine Art Schweigekolonne" entstanden, die Schwerbelastete schützte und die Aufarbeitung behinderte. Daraus erkläre sich das restaurative Klima in den 1950er Jahren ebenso wie der politische Zorn im Aufbruchsgeist der 68er-Bewegung. Vor diesem Hintergrund hebt Uwe Wesel die große Bedeutung des Beamtenurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1953 hervor, das festlegte: "Alle Beamtenverhältnisse sind am 8. Mai 1945 erloschen." Zwei juristische Welten seien hier - mit dem Beamtenurteil und dem 131er-Gesetz - aufeinandergetroffen. Wer in der Bundesrepublik als Beamter wiedereingestellt wurde, durfte keine formale Bindung an seinen Beamtenstatus im 'Dritten Reich' postulieren, die Loyalitätsbindung war gekappt. Obwohl die persönlichen Kontinuitäten wirksam blieben, war es den Kohorten alter Nationalsozialisten nicht mehr möglich, sie als Staatsdiener zu beschwören und juristisch zu instrumentalisieren. Sie wurden individualisiert und privatisiert. Das alte Denken konnten sie zwar noch in ihrer Rechtsprechung aus autoritärem Geist zur Geltung bringen, aber nicht mehr unter Berufung auf vermeintlich bleibende Leistungen des nationalsozialistischen Führerstaats normativ legitimieren.
Die 1950er Jahre waren die Zeit verfassungsrechtlicher Festigung der demokratischen Ordnung. Wesel illustriert den insgesamt erfolgreichen Prozess anhand der Auseinandersetzungen über die Wiederbewaffnung und der Meinungsbildung zum Verbot der neo-nationalsozialistischen SRP und der KPD, bevor er die Rechtsprechung zur Verwaltung und zu Themen des Privatrechts skizziert. Insgesamt zeichnet er das Bild einer umsichtigen Grundlegung des westdeutschen Rechtsstaats um den Preis der vergangenheitspolitischen Belastungen.
Im dritten Teil über die Jahre von 1966 bis 1990 stehen der Aufbruch in der Außenpolitik, die Liberalisierung in der Gesellschaft und die praktische Umsetzung von Modernisierungseinflüssen im Mittelpunkt. Ost- und Deutschlandpolitik, die Notstandsgesetze, die Schaffung des Umweltrechts als neues Rechtsgebiet, die Anpassung des Familienrechts an die Lebensformen der Wohlstandsgesellschaft, die Weiterentwicklung des Arbeits- und Sozialrechts und, mit wachsender Bedeutung, das Europarecht bilden die Schwerpunkte. Gemessen an der Wiederaufbauzeit wird hier die Normalisierung der Lebensverhältnisse sichtbar. Zugleich achtet der Autor darauf, den roten Faden des Umgangs mit der NS-Vergangenheit immer wieder herauszupräparieren. Das Scheitern einer Selbstreinigung der deutschen Justiz bezeichnet er als "deprimierendes Thema" (163), und er lässt den Gegensatz erkennen zwischen dem Bundesverfassungsgericht als einer Institution, die von NS-Gegnern bestimmt wurde, und dem Bundesgerichtshof, an dem nicht wenige NS-Richter urteilten.
Der vierte Teil stellt heraus, wie anders nach 1990 der Umgang mit Belasteten aus der DDR-Diktatur aussah. Der BGH urteilte noch 1999 in einer Form, nach der früher hunderte Richter der NS-Zeit zu höchsten Strafen hätten verurteilt werden können. Damals sei es unterlassen worden, "nun war es auf einmal möglich. Auch das gehört zum Rechtsstaat Bundesrepublik" (239). Themen des Kapitels von 1990 bis 2018 sind die Herausforderung der Digitalisierung (Datenschutz), das neoliberal umgestaltete Sozialrecht (Hartz IV) sodann Arbeitsrecht, Familienrecht und Umweltrecht. Ein Abschnitt gilt dem Europarecht mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon.
Insgesamt bietet das Buch anregende Thesen zur Rechtsgeschichte der Bundesrepublik. Ob es "die" Rechtsgeschichte abbildet, sei dahingestellt. Jüngere Autoren würden gewiss andere Schwerpunkte setzen. Gerade deshalb aber lohnt die Lektüre, denn die Darstellung stützt sich nicht nur auf Wesels fachliche Expertise, sondern auch auf seine kritische Zeitgenossenschaft von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart.
Anmerkung:
[1] Matthias Jestaedt u. a.: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011; Michael Stolleis (Hg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München 2011; Justin Collings: Democracy's Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court 1951-2001, Oxford 2015; Florian Meinel (Hg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2019.
Anselm Doering-Manteuffel