Tobias Hoffmann: Heilige List. Doloses Handeln hochmittelalterlicher Bischöfe und Äbte im Spannungsfeld von Weltwirken und Weltflucht (= Religion und Politik; Bd. 18), Würzburg: Ergon 2019, 352 S., ISBN 978-3-95650-497-6, EUR 55,00
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Die List ist - heute wie im Mittelalter - ein ambivalenter Begriff. Sie kann zugleich das Übervorteilen, die Heuchelei oder Verstellung, die Lüge bezeichnen, wie sie andererseits eine bewundernswerte Fähigkeit zur Lösung scheinbar auswegloser Situationen darstellt. Wenn die Bibel den Teufel wiederholt als Lügner und Täuscher, alttestamentliche Persönlichkeiten (wie etwa Judith) aber als listige Helden präsentieren konnte, so wird diese Doppeldeutigkeit umso deutlicher. Schon zu Beginn seiner in Münster entstandenen und nun in gedruckter Form vorliegenden Dissertation zeigt Tobias Hoffmann diese Zweischneidigkeit der List auf, die sich weit über den biblischen Bezug hinaus in allen Lebensbereichen finden lässt.
Die Einführung zeichnet dabei konzise und gut nachvollziehbar die Spannungsverhältnisse und den Forschungsstand nach, präzisiert jedoch nicht weiter den geografischen und zeitlichen Fokus der Studie, der es um die List in biografischen Erzählungen über Bischöfe und Äbte des Hochmittelalters geht. Es folgt im zweiten Kapitel eine kurze Diskussion der Stellung von List und Lüge in den theologischen Diskursen des Mittelalters, die ebenso eine vom guten Zweck her gerechtfertigte Lüge wie das listige Schweigen zur Umgehung des Lügens kannte, wobei man sich auf die Autorität des Augustinus berufen konnte.
Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bilden dann die Kapitel 3-6, die zudem durch kurze Zusammenfassungen auch für den raschen Leser leichter erschlossen werden. Im dritten Kapitel verfolgt Hoffmann die List in politischen Kontexten. Hier kann er zeigen, dass Listnarrative bei der Erhebung von Bischöfen und Äbten dazu dienten, die Demut und charakterliche Eignung der Kandidaten bei der stets unter dem Verdacht der eigenen Ruhmsucht oder weltlicher Ziele stehenden Erhebung hervorzuheben: Wer nur durch eine List zur Übernahme des Amtes gebracht werden konnte, musste die christliche Demut wahrlich internalisiert haben. Am Beispiel Bischof Bennos II. von Osnabrück, der sich seiner Vita zufolge 1080 in Brixen dadurch der harten Entscheidung zwischen Kaiser und Papst entzog, dass er sich in einer Altarnische versteckte, zeigt sich die Möglichkeit, durch das Listnarrativ eine Entscheidungssituation als offen und damit auch für die Gegenwart der Erzählung akzeptabel zu gestalten. In Krieg und Flucht wurde in der Regel der Mehrgewinn einer Listanwendung für ein größeres Wohl unterstrichen, um kein schlechtes Licht auf die Protagonisten der biografischen Erzählung fallen zu lassen.
Nach diesen hagiografischen Zwecken fragt auch das vierte Kapitel, wenn die Askese bei der Ernährung und der Kleidung im Spannungsfeld zwischen Verstellung und echter Lebenspraktik aufgegriffen wird. Damit sind hagiografische Erzählungen angesprochen, in denen über die versteckte, erst nachträglich auffallende Askese eines hochrangigen Klerikers berichtet wird, von dem sein Umfeld zugleich die Repräsentation seines bedeutsamen Kirchenamtes erwartete. Ein hier aufgegriffenes Beispiel ist etwa Thomas Becket, auf dessen Sterbebett man einigen seiner Biografen zufolge erst das unter der bischöflichen Gewandung angelegte härene Wams gefunden habe; erhellend erklärt Hoffmann diese Erzählung von der bischöflichen Verstellung als eine Möglichkeit, den zu Lebzeiten ostentativ repräsentativen und so gar nicht demütigen Lebenswandel Beckets posthum zum irreführenden Schein zu erklären, unter dem bei genauerem Blick die demütige Heiligkeit umso deutlicher erscheine. Anders verhielt es sich bei Werken der Barmherzigkeit, denn die Zuwendung und Fürsorge für die Armen gehörte zu den dezidierten Aufgaben eines Bischofs; doch zugleich widersprach ostentative Almosenvergabe der christlichen Demut, so dass hier die Listnarrative von nächtlich und heimlich verübter Mildtätigkeit der Betonung der persönlichen Tugend der Protagonisten dienten und ihnen über die Norm hinausgehende Wohltätigkeit attestierten.
Ganz ähnlich wie im vorangegangenen zeigt sich auch in dem dieser Thematik gewidmeten fünften Kapitel, dass diese Narrative zugleich einer Kritik begegnet sein dürften, die etwa in der Erinnerung an unbarmherziges Verhalten eines Bischofs begründet liegen konnte; als Beispiel wird hier Erzbischof Anno II. von Köln besonders beleuchtet.
Das sechste Kapitel schließlich fragt nach dem Verhältnis von List und Wunder. Auch hier betont die Heimlichkeit die Demut des Heiligen, wenn er zu Lebzeiten etwa Heilungen durchführt, wie es bei Bernhard von Clairvaux der Fall gewesen sein soll, der sich gegen seine Verehrung (freilich erfolglos) zu wehren versuchte. Die häufig belegte Bitte um das Verschweigen eines Wunders tat in der Perspektive dieser Studie nicht nur der Demut des Portraitierten, sondern erneut auch dem Problem des Hagiografen genüge, eine geringe Anzahl an überlieferten Wundern noch überzeugender erklären zu können.
Gerade diese Überlegungen, die die Konstruktion von Viten betreffen und die posthumen Erklärungsstrategien von deren Autoren zur Kaschierung der wahrgenommenen Schwächen der vermuteten Heiligen in den Blick nehmen, gehören zu den besonderen Stärken dieser Arbeit. Streng genommen geht es damit eigentlich nicht mehr um die List und ihren Ort in der Lebensrealität des Mittelalters (Fälschungen sind dementsprechend auch weitgehend ausgeklammert, siehe bereits 29f.), sondern um Listnarrative und deren Wirksamkeit in der hagiografischen Erzählung hochmittelalterlicher Viten. Das nimmt der Arbeit keineswegs ihren Reiz. Im Gegenteil: Sie fügt sich ein in den allgemeinen Zug hin zu einer kulturhistorischen Auswertung von hagiografischen Erzählungen, zu denen die meisten hier verwendeten Viten ja gehören. So ist etwa zeitgleich die in München entstandene Dissertation von Andreas Rentz ("Inszenierte Heiligkeit", 2019) der Entstehung von Heiligkeit zu Lebzeiten - und damit auch dem Scheitern von Wundererzählungen - nachgegangen; diese Arbeit lässt sich als Beitrag im Bereich einer von Hoffmann (243) zu Recht wahrgenommenen Lücke in der Erforschung von Wundern, die zu Lebzeiten von Heiligen gewirkt wurden, verstehen.
Tobias Hoffmann ist hier ein wichtiger Schritt hin zu einem besseren Verständnis dieser Quellengattung und ein Beitrag zur weiteren Kulturgeschichte des Hochmittelalters gelungen. So kann man am Ende mit dem Autor von Glück sagen, dass er nicht "ein anderes, weniger schrilles Thema" (so das Vorwort, 5) für seine Studie gewählt hat.
Romedio Schmitz-Esser