Hans-Joachim Hahn / Olaf Kistenmacher (Hgg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild - zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 37), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, VII + 416 S., 2 Farb-, 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-053970-7, EUR 119,95
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Weil sich der moderne Antisemitismus formal als Fiktion und Mythos verstehen lasse, so die Herausgeber des zweiten Bandes der "Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft", setze die künstlerische Auseinandersetzung mit ihm an seiner Grundlage an: "im Bereich des mythischen Glaubens, der Imaginationen und der 'Einstellung'". (2) Der Band widmet sich entsprechenden Beschreibungsversuchen und Gegennarrativen in Literatur, Film, Musik und Theater, bildender Kunst und Comic in einem Zeitraum von etwa 1750 bis 1950. Der Fokus auf die frühe Antisemitismusforschung verlagerte schon im ersten, 2014 erschienenen Band mit dem Untertitel "Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944" die wissenschaftsgeschichtliche Perspektive, da die systematische Erforschung des Antisemitismus zumeist bei den Schriften von Sartre, Horkheimer und Adorno angesetzt wird. Seit den 2010er Jahren hat sich eine Reihe von Publikationen verstärkt den Pionieren und Frühformen der Antisemitismusforschung zugewandt. [1] Gerade mit dem Gegenstandswechsel hin zu einer Kunst und Populärkultur, die sich als Beitrag zur Bekämpfung des Judenhasses verstand, werden im vorliegenden Band jedoch auch vermehrt Anknüpfungspunkte an ältere Forschungen zum deutsch-jüdischen und europäisch-jüdischen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus sichtbar, auch wenn sich die Beiträge nicht ausschließlich auf jüdische Akteure beziehen. Während sich Arbeiten hierzu zumeist auf fünf verschiedene (nicht immer klar voneinander abgrenzbare) Ebenen bezogen - die individuelle und physische Gegenwehr, die intellektuelle Auseinandersetzung, die Organisation in Gruppen, das Vorgehen mit rechtlichen Mitteln und die bildungspolitische Agitation [2] - wäre zu fragen, ob die Bekämpfung des Antisemitismus mit "kulturellen Mitteln" (2), sich hier unterordnen lässt oder ein weiteres Agitationsfeld aufzeigt, das in seiner Spezifik und Eigenart erst noch genauer zu bestimmen ist.
In 15 Beiträgen befassen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes vornehmlich mit Literatur, bieten jedoch vielfach Ausblicke oder Exkurse zu anderen Kunstformen. Patricia Zhubi beispielsweise geht es in ihrem Aufsatz sowohl um Hugo Bettauers Roman Stadt ohne Juden als auch um Adaptionen des Romans auf dem Theater und im Film. Maria Heiner beschäftigt sich explizit mit Lea Grundigs Grafikzyklus "Der Jude ist schuld!", und Markus Streb analysiert europäische und nordamerikanische Comics der 1940er Jahre, etwa von Horst Rosenthal oder solche, die im Auftrag des American Jewish Commitee produziert wurden.
Neben der chronologischen Anordnung der Aufsätze schlagen die Herausgeber in ihrer Einleitung auch eine vage motivische Gruppierung vor. Hierzu gehört etwa das Motiv der Maske und des Identitätsspieles, das Autoren wie Hugo Bettauer oder Gotthold Ephraim Lessing in ihren Werken vielfach gegenläufig zum gängigen Diskurs verwenden. Nike Thurns Beitrag analysiert Lessings Stücke Die Juden von 1749 und Nathan der Weise von 1779 als "intertextuelle Entlarvung zeitgenössisch vorherrschender antijüdischer Stereotype". (31) Als "progressiven Prätext" konfrontiert sie Lessings Nathan mit zahlreichen Adaptionen des Stücks. Eine solche Zusammenschau und Kontextualisierung erhellt den Blick für Lessings virtuose Verwendung populärer literarischer Topoi, die bei ihm gerade gegen die Erwartung des Lesers oder des Publikums gewendet werden. Auf diese Weise, so Thurn, führe Lessing dem Publikum seine eigenen Ressentiments vor. Der Vergleich mit den Nathan-Travestien verstellt zum Teil aber auch eine kritische Lesart der Lessingschen Stücke, wie sie prominent zwar erst nach dem Holocaust formuliert wurde, mit Blick auf die Fragestellung des Bandes und der Wirkungsmöglichkeiten von Literatur aber durchaus aufschlussreich ist.
Als weiteres zentrales Motiv wird der sogenannte latente Antisemitismus oder der Antisemitismus als kultureller Code thematisiert. Darauf geht etwa Olaf Kistenmacher in seinem Beitrag zu Marcel Proust ein. Mit Hannah Arendt weist er darauf hin, dass die "eigentümliche Wirklichkeit und Konsistenz der Proustschen Welt" sich gerade darin auszeichne, dass "Ereignisse nur wirklich werden, wenn sie sich in der Gesellschaft bereits gespiegelt haben, um dann in dieser Brechung von dem Individuum bedacht zu werden". (166) Auf diese Weise bilde die Dreyfus-Affäre den omnipräsenten Hintergrund für Prousts Roman À la recherche du temps perdu, dessen Stärke nicht so sehr in einer Analyse, sondern vielmehr einer dichten Beschreibung des latenten Antisemitismus der französischen Gesellschaft bestehe. Die mehrfache Vermittlung, auf die Arendts Diktum verweist, und die sich am Beispiel Prousts besonders gut studieren lässt, kann dabei als Besonderheit künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus insgesamt angesehen werden. Unter dem Stichwort der "produktiven Ambivalenz" von Kunst wird sie denn auch in zahlreichen Beiträgen des Bandes aufgegriffen, wenngleich der Begriff zum Teil etwas unbestimmt bleibt und in der Lage ist, Uneindeutigkeiten und Grenzen zum literarischen Antisemitismus hin zu verwischen.
Paula Wojcik dagegen zeigt in ihrem Beitrag, wie wirkmächtig und deutlich Codes in jiddischen Balladen der 1930er und 1940er Jahre funktionieren können, in denen die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zu einem umfassenden literarischen Diskurs avancierte. Als gattungsspezifisches Merkmal macht sie das Motiv des Verlustes aus, das als "kultureller Code" für antisemitische Gewalt und Pogrome stehe. Wojciks gelehrter Exkurs über den Volkslieddiskurs, der eine Affinität zu Herders Kulturessentialismus aufzeige, erhellt die "andere Logik", auf der die jiddischen Balladen aus dieser Zeit fußen. Anhand Walter Benjamins Unterscheidung von Schicksal und Charakter macht Wojcik den zentralen Gehalt der Balladen sichtbar, in denen es um die Erfahrung und das Handeln von Individuen in einer krisenbehafteten Gegenwart gehe: Anstatt von "kausale[r] Notwendigkeit" und "historisch bedingte[m] Schicksal des jüdischen Volkes" auszugehen, verdeutlichen sie die "individuelle Dimension von antisemitisch motivierter Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung". (339) Zwei weitere Schwerpunkte des Bandes sind der Ghettoliteratur und dem literarischem (Proto-)Zionismus sowie literarischen Texten aus der politischen Linken gewidmet. Die Einleitung rückt darüber hinaus Autoren und Werke in den Blick, denen keine Aufsätze im Band gewidmet sind - eine durchaus aufschlussreiche Skizze, die zugleich jedoch auch die Lücken des Bandes hervorhebt, wenn etwa Kafka einleitend diskutiert, im Folgenden aber nicht mehr thematisiert wird. In der Disparität des Bandes, der diverse Formen und Medien künstlerischer Auseinandersetzung sichtbar macht und sich keineswegs auf den deutschen Diskurs beschränkt, liegt jedoch auch die Stärke der versammelten Beiträge, die eine Fülle von Gegennarrativen zur weiteren Systematisierung in die Forschung einbringen.
Anmerkungen:
[1] Etwa der ähnlich gelagerte Quellenband mit Kommentaren: Birgit Erdle / Werner Konitzer (Hgg.): Theorien über Judenhass - eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition (1781-1931), Frankfurt/M. / New York 2015. Vereinzelt findet sich diese wissenschaftsgeschichtliche Hinwendung zur frühen Antisemitismusforschung bereits früher. Ähnliches ließe sich auch über die Geschichte der Holocaustforschung sagen.
[2] Vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Fighting Back! How to Deal with Antisemitism - A Historical Perspective, in: The Leo Baeck Institute Yearbook 62 (2017), 245-262.
Annette Wolf