Hans-Joachim Hahn / Olaf Kistenmacher (Hgg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944 (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 20), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, VII + 486 S., ISBN 978-3-11-033905-5, EUR 99,95
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Sammelbände zu rezensieren ist eine undankbare Aufgabe. Diskutiert man die einzelnen Beiträge, droht oft der Zusammenhang des Ganzen aus dem Blick zu geraten, konzentriert man sich umgekehrt auf das Gesamtkonzept des Bandes, so wird man den Einzeluntersuchungen nicht gerecht. Im vorliegenden Werk über "Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944", das von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher herausgegeben wurde, ist dieses Problem besonders ausgeprägt. Schließlich sind die einzelnen Beiträge methodisch wie inhaltlich so disparat, dass der Rezensent eine Vielzahl von Besprechungen verfassen müsste, um den Inhalt wirklich angemessen diskutieren zu können. Die vorliegende Rezension stellt daher einen Kompromiss dar: Im ersten Teil werden ausgewählte Einzelbeiträge vorgestellt, im zweiten wird das Gesamtkonzept diskutiert.
Der Band ist formal in eine Einleitung und drei chronologisch gegliederte Abschnitte unterteilt. Während die Einleitung der Herausgeber zusammen mit dem Aufsatz "Von der Judenfrage zur Antisemitenfrage" von Klaus Holz und Jan Weyand den theoretisch-konzeptionellen Teil des Buches repräsentiert, finden sich in den Abschnitten zum 18., 19. und 20. Jahrhundert neben einzelnen Übersichtsdarstellungen vor allem Untersuchungen zu einzelnen antisemitismuskritischen Publizisten. Die Spannweite ist dabei sehr weit - von Bernard Lazare und Nathan Birnbaum bis Isaac Breuer und Leo Trotzki ist so ziemlich jedes intellektuelle Spektrum vertreten. Auffällig ist, dass es mit ganz wenigen Ausnahmen jüdische Akteure sind, die den Antisemitismus kritisieren, was Franziska Krah in ihrem Gesamtüberblick zur "Abwehr und Deutung des Antisemitismus während der Weimarer Republik" auf die Ausgrenzungserfahrung zurückführt. Und so beschäftigen sich die meisten Beiträge weniger mit "Beschreibungen der Judenfeindschaft" als vielmehr mit jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus. [1]
Werner Treß' Aufsatz über die Judenfeindschaft im Kontext der "Befreiungskriege" und die Entgegnungen jüdischer Intellektueller fördert erschreckendes Material zutage. Obwohl die Grundzüge von Treß' Argumentation keineswegs neu sind, ist die Diskussion der Quellen überaus erhellend. Marcel Stoetzler widmet sich dem "Berliner Antisemitismusstreit" von 1880 und speziell der Reaktion des jüdischen Gelehrten Moritz Lazarus. Dieser habe, so Stoetzler, eine liberale Kritik der nationalliberalen Judenfeindschaft Heinrich von Treitschkes formuliert, die zwar das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft vorweggenommen habe, es zugleich aber nicht vermochte, den Horizont des Nationalen zu überschreiten. Caspar Battegays Beitrag über Nathan Birnbaum ist weniger im Hinblick auf dessen Antisemitismusanalyse lesenswert, sondern weil es Battegay gelingt, die politisch-religiöse Gesamtentwicklung Birnbaums - vom Zionisten über einen Diasporanationalisten zum Orthodoxen - mithilfe dieser Texte anschaulich zu machen. In ihrem vorzüglichen Beitrag über "Otto Weininger als Theoretiker und Praktiker des Antisemitismus" bietet Christine Achinger eine spannende Relektüre von Weiningers prominenter Schrift Geschlecht und Charakter aus dem Jahre 1903. Sie zeigt, dass die Forschung Weininger zu Unrecht in die völkische Ecke gestellt hat und auch der Vorwurf des "jüdischen Selbsthasses" (Theodor Lessing) nur bedingt geeignet ist, um dessen Philosophie zu verstehen. Obgleich diese antisemitisch und radikal misogyn sei, biete Weiningers Buch zugleich auch wertvolle Einsichten in die Psychopathologie des Antisemitismus und die brüchige Subjektkonstitution des fin de siècle.
Was das Gesamtkonzept des Bandes betrifft, so betonen die Herausgeber in ihrer Einleitung, es gehe ihnen um die "verschüttete Vorgeschichte" (2) bzw. "Genealogie" (6) der modernen Antisemitismusforschung. Modern sei diese, wenn sie erkannt habe, dass der Antisemitismus nichts mit dem Verhalten der Juden zu tun hat. Diese These, die mit zwei Schlüsseltexten aus dem Jahr 1944 - den "Elementen des Antisemitismus" von Adorno und Horkheimer sowie den "Überlegungen zur Judenfrage" von Sartre - identifiziert wird, findet sich überall im Buch wieder und bildet somit den roten Faden. Den Judenhass unmittelbar auf das empirische Verhalten einzelner Juden oder der Juden als Kollektiv zurückzuführen, ist offensichtlich unsinnig und verkehrt schlimmstenfalls sogar das Verhältnis von Täter und Opfer. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, wieso ausgerechnet die Juden über Jahrhunderte hinweg verfolgt wurden. Um dies zu erklären, bedarf es auch eines Rückgriffes auf die lange Geschichte der Judenfeindschaft vor der Moderne - und damit auch einer Reflexion über die ganz realen und nicht nur imaginären Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. [2]
Auch ein anderes, in der Forschung immer wieder auftretendes Problem zeigt sich im vorliegenden Sammelband, der die Vorgeschichte der Antisemitismustheorie abbilden will, aber sich expressis verbis auf das Jahr 1944 bezieht. Während Sartres Essay sich vor allem am französischen Antisemitismus der Dritten Republik abarbeitet, ist Adornos und Horkheimers Analyse deutlich unter dem Eindruck der ersten Nachrichten über die Massenvernichtung der europäischen Juden geschrieben. Somit ist einerseits Sartres Analyse 1947, als sie veröffentlicht wird, bemerkenswert inaktuell, andererseits auch Adornos und Horkheimers "Elementen" eine gewisse Unschärfe inhärent, denn sie rekonstruieren einen Zusammenhang zwischen der langen Geschichte der Judenfeindschaft und dem Holocaust, ohne den qualitativen Sprung zwischen beidem schon deutlich machen zu können. Es fehlten schlicht noch die Begriffe und das volle Wissen um die Ereignisse. Diese Differenz von Antisemitismus und Holocaust wird im Sammelband nicht thematisiert - obwohl es sich angesichts des Untertitels angeboten hätte, den Holocaust auch als Überforderung für die Antisemitismusforschung zu diskutieren. [3]
Resümierend sei dennoch festgehalten, dass der Sammelband zahlreiche aufschlussreiche Einzelstudien enthält sowie als Gesamtprodukt zu einer vertieften Debatte über die Genealogie der Antisemitismusforschung einlädt. Viele offene Fragen der Forschung werden thematisiert, das Buch wird bei der Klärung dieser Fragen sicher von einigem Nutzen sein.
Anmerkungen:
[1] Im englischsprachigen Raum gibt es bereits zahlreiche derartige Werke. Vgl. exemplarisch Jehuda Reinharz (ed.): Living with Antisemitism. Modern Jewish Responses, Hanover 1987.
[2] Vgl. zuletzt David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015.
[3] Vgl. Saul Friedländer: Vom Antisemitismus zur Judenvernichtung. Eine historiographische Studie zur nationalsozialistischen Judenpolitik und Versuch einer Interpretation, in: Ders.: Nachdenken über den Holocaust, München 2007, 9-45.
Philipp Lenhard