Christina Engelmann / Lena Reichardt / Bea S. Ricke u.a. (Hgg.): Im Schatten der Tradition. Eine Geschichte des IfS aus feministischer Perspektive (= IfS. Aus der Reihe; 5), Berlin: Bertz + Fischer 2025, 256 S., ISBN 978-3-86505-855-3, EUR 18,00
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Anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS), an dem einst die "Kritische Theorie" der später sogenannten "Frankfurter Schule" entwickelt wurde, ist eine Vielzahl neuer Veröffentlichungen erschienen, die gänzlich neue oder bisher zu wenig beachtete Aspekte in den Blick nahmen. Neben philosophischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Beiträgen waren auch umfassende geschichtswissenschaftliche Studien zu finden, die die seit Jahren zu konstatierende Historisierung der Kritischen Theorie fortsetzten. [1]
Nun ist mit geringfügiger Verspätung ein Band aus dem Institut für Sozialforschung selbst erschienen, der auf einem hausinternen Forschungsprojekt basiert und dieser Historisierung eine feministische Perspektive zugrunde legt. Der Band Im Schatten der Tradition versammelt zehn Aufsätze verschiedener Autor:innen, eine instruktive Einleitung der Sozialwissenschaftlerin Sarah Speck sowie ein abschließendes Gespräch über "Kritische Theorie und feministische Theorie(n)".
Zurecht stellen die Autor:innen heraus, dass die Geschichte des Instituts für Sozialforschung lange Zeit vor allem als Männergeschichte geschrieben wurde, in der Frauen, wenn überhaupt, nur als Ehefrauen von Geistesriesen vorkamen. Sarah Speck benennt in der Einleitung drei Gesichtspunkte einer feministischen Perspektivierung: Erstens gehe es darum, "Personen, die in den gängigen, androzentrischen Narrativen nicht vorkommen" (8), ins Licht zu rücken. Zweitens müsse aber auch nach den Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit gefragt werden, die systematisch zur Unsichtbarmachung bestimmter Tätigkeiten führten, womit vor allem das Problem der "singulären Zurechnung intellektueller Arbeit" (9) in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess angesprochen ist. Drittens nehmen die Autor:innen sich vor, vergessene "Wissensbestände innerhalb der empirischen und theoretischen Arbeit am Institut und in dessen Umfeld" (10) zu rekonstruieren. Dazu zählen explizit auch solche Wissensbestände, die theoretisch anschlussfähig gewesen wären, aber aus unterschiedlichen Gründen "nicht Eingang in die programmatische Arbeit am Institut gefunden haben". (11)
Von diesen Prämissen ausgehend, widmen sich die Autor:innen vielfältigen Themengebieten. Ein erhellender Beitrag von Judy Slivi beschäftigt sich beispielsweise mit Margarete Lissauer und Hilde Weiss, während Christina Engelmann die Freundschaft Felix Weils mit Clara Zetkin zum Ausgangspunkt nimmt, um den Verbindungen des Instituts zur proletarischen Frauenbewegung nachzuspüren. Zwei weitere Aufsätze beschäftigen sich mit der bereits im Exil unter Max Horkheimers Leitung angefertigten großen Kollektivstudie über Autorität und Familie, an der zahlreiche Wissenschaftlerinnen mitgearbeitet haben, darunter Käthe Leichter. Hier hätte vielleicht ein netzwerkgeschichtlicher Ansatz noch deutlicher machen können, inwiefern Frauen in die Wissenschaftsnetzwerke des Instituts eingebunden waren. [2]
Wie Barbara Umrath in ihrem Beitrag zeigt, sind geschlechtertheoretische Fragen ein integraler Bestandteil der genannten Familienstudie, wobei sie insbesondere auf den rechtswissenschaftlichen Ansatz Ernst Schachtels eingeht. Karin Stögner widmet sich daran anschließend dem sozialpsychologischen Werk Else Frenkel-Brunswiks, die maßgeblich an der berühmten Studie über die autoritäre Persönlichkeit beteiligt war, welche häufig fälschlich einzig Adorno als Autor zugeschrieben wird. Ein Aufsatz Bruna Della Torres über die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk, deren Leben und Werk jüngst verstärktes Interesse hervorgerufen hat, rundet den ersten, eher auf Einzelpersonen fokussierten Teil ab.
Im zweiten Drittel des Bandes folgen drei Beiträge zur empirischen und theoretischen Frauenforschung, die am Institut vor allem in den 1970er und 1980er Jahren betrieben wurde. Es folgt eine kritische Rekonstruktion der "Ausblendung un/sichtbarer Arbeit" von Sarah Speck und Stephan Voswinkel, die sich vor allem mit der Rolle Gretel Adornos beschäftigt. Es wäre interessant gewesen, spätestens an dieser Stelle den Blickwinkel über das IfS hinaus etwas zu weiten und das diagnostizierte Phänomen auch an anderen Beispielen der deutschen Wissenschaftsgeschichte durchzuspielen - inwiefern etwa muss Marianne Weber, die das soziologische Hauptwerk Max Webers nach dessen Tod teilweise aus Fragmenten zur Veröffentlichung vorbereitete, als Mitautorin von Wirtschaft und Gesellschaft gelten? [3] Überhaupt hätten vergleichende Perspektiven dem Band in manchen Kontexten gutgetan.
Eine echte Leerstelle des Bandes ist - wie leider so häufig in der Forschungsliteratur - die jüdische Geschichte des Instituts für Sozialforschung, die sich speziell bei den verhandelten Biographien förmlich aufdrängt (eine Ausnahme ist der Beitrag Karin Stögners). Wieso zog das Institut in den 1920er und 1930er Jahren weit überdurchschnittlich viele jüdische Frauen an? Und inwiefern muss die Geschlechterordnung am Institut auch vor dem Hintergrund jüdischer Traditionsbestände analysiert werden? Das wären spannende Fragen gewesen, die den Beiträgen noch eine zusätzliche Tiefenschärfe gegeben hätten. Am grundsätzlich positiven Gesamturteil ändert dies jedoch wenig. Im Schatten der Tradition ist eine längst überfällige, notwendige Ergänzung und teilweise auch Korrektur der bestehenden Forschung zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung. Neben vielen interessanten Details bringt sie auch zentrale Mängel der Institutsgeschichtsschreibung aufs Tableau. Da die Beiträge allesamt recht knapp sind, ist zu hoffen, dass sie weitergehende Forschungen anstoßen werden, die sich dem Thema auf größerem Raum zuwenden können.
Anmerkungen:
[1] Darunter sind Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, Berlin 2024, Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie, Berlin 2022 sowie das Buch des Rezensenten Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, München 2024.
[2] Zu den intellektuellen und politischen Netzwerken des Instituts im weiteren Sinne hat soeben Georg Wiesing-Brandes ein wichtiges Werk vorgelegt, das auch für die Fragestellungen des hier anzuzeigenden Bandes instruktiv sein dürfte. Vgl. Georg Wiesing-Brandes: Walter Benjamin. Das Pariser Adressbuch. Eine Biographie des Exils im Spiegel, Wädenswill am Zürichsee 2025.
[3] Siehe dazu Theresa Wobbe: Marianne Weber (1870-1954). Ein anderes Labor der Moderne, in: Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, hgg. von Theresa Wobbe / Claudia Honegger, München 1998, 153-177, 305-311 und 356-362.
Philipp Lenhard