Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt, Berlin: Berlin Verlag 2020, 252 S., 2 Kt., ISBN 978-3-8270-1425-2, EUR 18,00
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Ronen Steinke: Antisemitismus in der Sprache. Warum es auf die Wortwahl ankommt, Berlin: Duden Sachbuch 2020, 63 S., ISBN 978-3-411-74375-9 , EUR 8,00
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Mareike König / Oliver Schulz (Hgg.): Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive. Nineteenth Century Anti-Semitism in International Perspective, Göttingen: V&R unipress 2019
Michael Wolffsohn: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus, Freiburg: Herder 2024
Martin Jander / Anetta Kahane (Hgg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Porträts, Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2021
Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis, München: Carl Hanser Verlag 2020
Peter Longerich: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München: Siedler 2021
Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Wyrwa, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2021
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2020
Peter Longerich: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München: Siedler 2021
Die Lektüre der Bücher von Ronen Steinke deprimiert. Sie deprimiert, weil sie in ungeschönter Weise vor Augen führt, welche Rolle der Judenhass und die antisemitische Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik spielten und wie kläglich der Staat in ihrem Angesicht versagte. "Terror gegen Juden" ist eine Anklage, wie es in Anspielung auf Emile Zolas "J'accuse" 1898 anlässlich der Dreyfus-Affäre in Frankreich im Titel heißt. Eine Anklage gegen die Ignoranz, das Wegschauen, das Kleinreden durch die staatlichen Stellen, aber auch durch einen Großteil der Gesellschaft.
Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung nimmt den Leser in acht essayistischen Kapiteln mit in die Abgründe der Judenfeindschaft. Das Buch ist kein strikt wissenschaftliches Werk mit einem langen Fußnotenapparat. Und das ist auch gut so. Seine wissenschaftliche Expertise hat der promovierte Jurist Steinke ohnehin an anderer Stelle unter Beweis gestellt, nicht zuletzt mit der Biographie über Fritz Bauer [1].
Das Thema Antisemitismus lässt sich schwerlich mit der üblichen akademischen Distanz abhandeln. Es ist kein Thema unter anderen, sondern ein höchst aktuelles, das in den Kern der demokratischen Gesellschaft zielt. Der Umgang mit Minderheiten und ganz besonders mit Juden markiert für sie einen Gradmesser.
Bereits beim Aufklappen des Buches wird der Skandal deutlich. Auf der Innenseite des Umschlags findet sich eine Deutschlandkarte mit antisemitischen Gewalttaten seit 1945, von Friedhofsschändungen über körperliche Angriffe bis zu Bombenanschlägen. Das ganze Land ist übersät mit Tatorten, Orten von Angriffen gegen eine Minderheit, die nach 1945 nur ca. 20.000 und heutzutage ca. 150.000 Personen umfasst. Ergänzt wird diese Karte von einer Chronik antisemitischer Gewalttaten seit Kriegsende bis in die Gegenwart, von einer Friedhofsschändung im bayerischen Diespeck kein halbes Jahr nach der Zerschlagung des NS-Regimes im Juli/August 1945 bis zum Auffinden eines Pakets mit einem zündfähigen Sprengsatz am Eingang der Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Thüringen im Januar 2020. Die Chronik umfasst 100 kleingedruckte Seiten - also 100 Seiten mit antisemitischen Gewaltakten!
Erstmals hat ein Autor mithilfe von Zeitungsartikeln, Polizeiberichten und weiteren Quellen eine systematische Auflistung hierzu erstellt. Das Verdienst dieser Zusammenstellung kann Steinke nicht hoch genug angerechnet werden.
Die staatliche Ignoranz, wenn es sich um judenfeindliche Gewalt handelt, zieht sich durch die verschiedenen Essays. Bestenfalls handelt es sich um Unkenntnis und Leichtfertigkeit, schlimmstenfalls erscheint es als bewusste Verdrängung oder gar Vorsatz, so auch beim ersten Kapitel "Blaming the victims. Wie beim NSU", das den Doppelmord in Erlangen 1980 an Shlomo Lewin, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, und Frida Poeschke, seiner Lebensgefährtin, behandelt. In dem ersten Attentat auf einen Vertreter der deutschen Juden nach 1945 ermordete ein Rechtsradikaler die beiden in ihrem Haus. Doch die Behörden untersuchten zunächst das Umfeld der Ermordeten, vermuteten innerjüdische Rivalitäten. Als sie dann nach Wochen schließlich einer zur Wehrsportgruppe Hoffmann führenden Spur nachgingen, war der Täter bereits in ein palästinensisches Ausbildungslager in den Libanon geflohen.
Dieses Muster kehrte immer wieder. Auch bei den Terrortaten des "nationalsozialistischen Untergrunds" ermittelte die Polizei zunächst gegen die Angehörigen.
Die bedrohten Juden fanden sich deshalb oftmals isoliert, verdächtigt und nicht geschützt. In diesem Sinne beginnt der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammende Autor den Aufsatz folgendermaßen: "Wir Juden reden nicht gern darüber, so werden wir erzogen, und so geben wir es weiter an unsere Kinder. Über die ständige Bedrohung wird in den jüdischen Gemeinden nicht zu offen mit Außenstehenden gesprochen". Man wolle nicht immer als Opfer wahrgenommen werden und klage nicht über Probleme, um sie nicht zu vergrößern. Dazu bezieht Steinke klar Stellung: "Ich glaube, das ist ein Fehler" (7).
Die jüdische Gemeinde benötige doch die Unterstützung vom Staat, der Polizei, den Gerichten, so der Autor. Dass dem so ist, zeigt das Buch mit vielen Beispielen. Und dass jüdische Gemeinden genau darauf nicht vertrauen können, ist das eigentliche Skandalon.
So verhinderte beim Angriff auf die Synagoge in Halle 2019 lediglich eine verstärkte Tür, dass der Attentäter ein Massaker an den Jom Kippur feiernden Juden im Gebäude verüben konnte. Für diese Tür war aber nicht die Landesregierung finanziell aufgekommen. Obwohl Gefährdungsanalysen in jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt stattgefunden hatten, ermöglichte eine Regelungslücke im Gesetz, dass die Regierung die Kosten nicht übernahm. Letztlich finanzierte eine Spende der Jewish Agency, einer karitativen Organisation mit Sitz in Jerusalem, die Sicherheitstür.
Ebenso seien Gerichte in vielen Fällen zu nachsichtig, wie etwa in Wuppertal 2014. Angesichts der Eskalation des Nahost-Konflikts hatten drei palästinensisch-stämmige Personen mehrere Molotowcocktails auf die dortige Synagoge geschleudert. Das Gericht konnte keine Anhaltspunkte für Antisemitismus erkennen und meinte, dass die Täter ein Zeichen gegen den Gaza-Krieg hätten setzen wollen. Dass ein Anschlag auf eine Synagoge per se antisemitisch ist, ignorierte das relativ milde Urteil. Ebenso schien der Richter nachvollziehen zu können, dass deutsche Juden für Ereignisse in Israel und Palästina in Mithaftung genommen wurden, so als ob die nordrhein-westfälische Stadt in der Levante läge und die Wuppertaler Juden dem Befehl des israelischen Generalstabs unterstünden.
Des Weiteren handelt Steinke auch die linke Judenfeindschaft ab. Die Tupamaros in Westberlin hatten am 9. November 1969, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus platziert, die nur aus technischen Gründen nicht explodierte. Anwesend waren dort neben Heinz Galinski, dem Gemeindevorsitzenden, auch weitere Holocaustüberlebende. Mit toten Juden wollten die linken Terroristen ein Zeichen gegen die Politik Israels setzen. Viele Linke begriffen seinerzeit den jüdischen Staat als neues "Drittes Reich". Diese Form der Projektion und des Schuldabwehrantisemitismus drückte exemplarisch Dieter Kunzelmann, der Guru der berüchtigten Kommune 1, aus. Er appellierte, dass die deutsche Linke ihren "Judenknacks" aufgeben und die wahren Verhältnisse, den faschistischen Charakter Israels, erkennen solle.
Trotz dieser deprimierenden Geschichte der Judenfeindschaft in den postnationalsozialistischen Staaten wendet sich der Autor gegen eine Emigration von Juden aus Deutschland nach Israel, wie sie seit Jahren in Frankreich zu beobachten ist. Stattdessen nennt Steinke vier Mindestbedingungen für eine positive Vision jüdischen Lebens in diesem Land: Hass-Verbrechen sollten konsequenter bestraft werden. Die Justiz dürfe niemals eine antisemitische Argumentation von Tätern übernehmen. Rechtsextreme seien konsequent aus dem Polizeidienst zu entlassen und jüdische Einrichtungen zu schützen.
Deprimierend an diesen Vorschlägen ist, dass sie so banal, so selbstverständlich erscheinen. Warum, fragt man sich als Leser, müssen Juden solche Dinge einfordern? Durch die Lektüre von Steinkes Buch "Terror gegen Juden" wird klar, warum dies notwendig ist.
Die zweite Publikation "Antisemitismus in der Sprache. Warum es auf die Wortwahl ankommt" macht deutlich, dass sich das judenfeindliche Ressentiment nicht immer unmittelbar in Gewalttaten äußern muss. Es beginnt früher, in der alltäglichen Sprache und vollzieht sich nicht selten unbewusst.
Steinke will für die Verwendung bestimmter Begriffe sensibilisieren, die ursprünglich als neutrale Wörter aus dem Jiddischen stammten, mit der historischen Entwicklung aber negativ konnotiert wurden. Jiddisch, das einstmals die osteuropäischen Juden gesprochen hatten, löschten die Deutschen in ihrem Vernichtungsfeldzug nahezu aus. Heutzutage wird die Sprache fast ausschließlich von ultraorthodoxen Juden in Israel oder in New York City verwendet. Nichtsdestotrotz haben viele Wörter daraus ihren Weg in die deutsche Alltagssprache gefunden.
Ihrer Etymologie und Genese geht Steinke in sechs Kapiteln auf gut 60 Seiten nach. Zunächst weist er darauf hin, dass viele Deutsche noch immer Probleme mit dem Wort "Jude" haben. Sie umschreiben es lieber mit "jüdischer Mitbürger" oder "Mensch jüdischen Glaubens". Der Holocaust habe sich wie ein Schatten über das Wort gelegt. Trotz der negativen Konnotationen schreibt Steinke: "Mir geht es da anders, ich bin gerne Jude."
Ferner funktioniere die Judenfeindschaft in der Sprache häufig mit Andeutungen und Chiffren. Bei der Verwendung von "Ostküste" oder "Wall Street" wird selten jüdisch hinzugefügt, aber das Assoziationsfeld der jüdischen Macht in den Vereinigten Staaten von Amerika werde auch ohne weitere Qualifizierung evoziert.
Außerdem hätten jiddische Begriffe wie Mischpoke, mauscheln oder schachern mit der Zeit ihre Bedeutung gewandelt und seien heute im Deutschen negativ aufgeladen. Als ursprünglich neutrale Ausdrücke habe sich in ihrer Verwendung die Geschichte der Judenfeindschaft eingeschrieben.
Beispielsweise bedeutete Mischpoke schlichtweg Familie, wertneutral ohne irgendeinen Beiklang. Die Assoziationen des aktuellen Gebrauchs lassen eher an eine eingeschworene Gemeinschaft mit unlauteren Motiven denken. Ebenso verhält es sich mit dem Jiddischen Verb "sacher", das "Handel treiben" bedeutet. Schachern oder Geschacher um Geld oder Posten in der heutigen Verwendung ist unbestreitbar negativ.
Eine ähnlich negative Spracherweiterung erfuhr das Wort "alttestamentarisch", das häufig von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ergänzt wird. Während die Redewendung ursprünglich dafür stand, einen gerechten Ausgleich zu finden, also Maß zu halten, steht es heute für jüdische Rachsucht. Außerdem ist die Unterteilung in ein Altes und ein Neues Testament eine strikt christliche Perspektive. In weiteren Beispielen geht der Autor solchem Bedeutungswandel nach.
Darüber hinaus plädiert er dafür, den Beitrag von Juden für die deutsche Kultur anzuerkennen. Bei aller Persistenz des judenfeindlichen Ressentiments stünden die Juden für mehr als für den Holocaust und die Ghettos. Dies werde bis heute in Deutschland nicht genug gewürdigt.
Unterm Strich ist es ein Skandal, dass derartige Bücher geschrieben werden. Sie verweisen auf einen tiefen Missstand in der deutschen Gesellschaft sowohl hinsichtlich des Umgangs mit Antisemitismus als auch hinsichtlich seiner divergenten Äußerungsformen.
Leider sind sie genau deshalb so notwendig und allen anzuempfehlen, die sich mit der Geschichte der Judenfeindschaft befassen. Hierbei sollte man sich ihrer erschreckenden Aktualität gewahr sein, die Steinke herausarbeitet.
Anmerkung:
[1] Ronen Steinke: Fritz Bauer. Oder Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, München / Berlin 2013.
Sebastian Voigt