Mareike König / Oliver Schulz (Hgg.): Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive. Nineteenth Century Anti-Semitism in International Perspective (= Schriften aus der Max Weber Stiftung; Bd. 1), Göttingen: V&R unipress 2019, 359 S., 18 Farb-, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0977-8, EUR 65,00
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Der im vergangenen Jahr erschienene Sammelband basiert auf ausgewählten Beiträgen zur Tagung "Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive" im Oktober 2015, die auf dem Tagungsblog in einem Open-Peer-Review-Verfahren diskutiert und von den Autorinnen und Autoren überarbeitet wurden. Der Band ist sowohl gedruckt als erster Band der Reihe "Schriften aus der Max Weber Stiftung" als auch online im open access bei perspectiva.net erschienen.
Bereits das Vorwort von Mareike König und Oliver Schulz stellt für geschichtswissenschaftliche Fachpublikationen zumindest im deutschsprachigen Raum ungewöhnlich direkt die unmittelbare Relevanz des Themas zum Verständnis aktueller Erscheinungsformen von Antisemitismus dar. Daran knüpft auch Ulrich Wyrwas Überblick "Zur Entstehung des Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Ursachen und Erscheinungsformen einer wahnhaften Weltanschauung" an. Er ist wohl auch als theoretisches Fundament den anderen Beiträgen vorangestellt. Wyrwa unterzieht verschiedene Strömungen aktueller Antisemitismusforschung einer kritischen Revision und sieht die Ursachen von Antisemitismus in den "sozialen Verwerfungen und mentalen Verunsicherungen der technisch-industriellen Welt" (22). Deren genauer Erforschung im 19. Jahrhundert ist der Band gewidmet. Die Kontexte des 19. Jahrhunderts sind aber, so Wyrwa, auch für eine angemessene Kritik des sogenannten Neuen Antisemitismus des 21. Jahrhunderts unerlässlich.
Die insgesamt 16 Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache sind gegliedert in sechs Unterabschnitte zu den Themen "Antisemitismus, Ökonomie und Gesellschaft", "Rezeption, Transfer und Vergleich", "Kunstgeschichte, Medien und Populärkultur", "Nationalitätenkonflikte und antisemitische Gewalt", "Christlicher Antisemitismus" und "Abwehr von Antisemitismus".
Dabei zeigen nicht wenige Beiträge auch interessante Querbezüge zwischen diesen Themen: Timo Hagen verbindet in seiner Lokalstudie zu Kronstadt eine fundierte architekturgeschichtliche Einordnung der Synagogenbauten mit ihrer Kontextualisierung in den ethnischen Spannungen und damit verbundenen antisemitischen Diskursen der Stadt, deren Spuren sich wiederum an den Bauwerken finden lassen. Und Daniel Véri zeichnet die Entwicklung der Erinnerung an Eszter Solymosi in Tiszaeszlár von deren Tod 1882 bis zum "pseudo-religiösen Kult" (286) der heutigen extremen Rechten in Ungarn nach, wobei es nicht zuletzt um die Deutung des Unfalltodes als Ritualmordlegende geht.
Der Tagungsband bietet eine große Bandbreite an thematischen Fragestellungen und methodischen Ansätzen. Er enthält eher überblickshafte Ländervergleiche, detaillierte Studien einzelner Werke und Regionen aber auch ideen- und transfergeschichtliche Beiträge. Mit Ausnahme des interessanten Beitrags von Oliver Schulz zur Entwicklung des Stereotyps von "jüdischen Kapitalisten" in den 1840er Jahren in Frankreich bezieht sich der Untersuchungszeitraum wenig überraschend ausschließlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die internationale Perspektive ist sowohl in der Beschreibung des zeitgenössischen wie des historischen Antisemitismus nicht neu, zumal auch dieser Band den europäischen Bezugsrahmen nur selten verlässt. Die Beiträge von Özgür Türesay, der den Einfluss des europäischen Antisemitismus im Osmanischen Reich untersucht, und Richard E. Frankel, der einen übergreifenden Vergleich zwischen Deutschland und den USA liefert, stellen Ausnahmen dazu dar. Positiv hervorzuheben sind gleich mehrere Beiträge zu Ursachen, Transfer und Genese der modernen Judenfeindschaft in Ostmitteleuropa. So untersucht etwa Silvia Marton den Antisemitismus im Zusammenhang mit der Staatsgründung Rumäniens. Die auch antisemitismustheoretisch bemerkenswerte Studie von Miloslav Szabó entwirft anhand der Werke des ukrainischen Publizisten Ivan Franko und des slowakischen Journalisten Anton Štefanek und in Auseinandersetzung mit sowohl Zygmunt Bauman als auch Klaus Holz das Konzept eines populistischen Antisemitismus für marginalisierte Nationalbewegungen in Osteuropa. Gerade im Hinblick auf Osteuropa, aber auch als Kontext für Ideen, Akteure und soziale Rahmenbedingungen der Geschichte des Antisemitismus in Westeuropa und den USA wird das zaristische Russland auch von Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes an verschiedener Stelle benannt. Es ist deshalb schade, dass eine dezidiert russländische Perspektive fehlt. Gut vertreten sind hingegen Beiträge, die explizit oder implizit jüdische Reaktionen auf und Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen antisemitischen Akteuren und Theoremen untersuchen. Nicolas Berg etwa stellt drei deutsch-jüdische Ökonomen vor, die in ihrer Forschung je unterschiedliche aber doch deutliche Gegenentwürfe zu Werner Sombarts antisemitischer Nationalökonomie unternahmen.
Die Aufsätze enthalten wertvolle, einige gar genuin neue Aspekte der Geschichte des zumeist europäischen Antisemitismus und führen aktuelle Forschungskontroversen fort. Die kunst- und architekturgeschichtlichen Aufsätze sind auch in der gedruckten Version anschaulich bebildert. So ist die Publikation im Ganzen ein wichtiger Beitrag zu einem historischen Verständnis von Antisemitismus, das über den jeweiligen nationalen und situativen Rahmen hinausgeht, breitere kommunikative Resonanzräume einbezieht und gleichzeitig die spezifischen regionalen Kontexte in den Blick nimmt. Immer wieder lassen sich auch bei den Einzelbeiträgen die bereits vorab postulierten tagesaktuellen Bezüge erkennen. Damit leistet das Buch auch einen im zeitgenössischen Diskurs bedeutsamen Beitrag zur Integration von historischer und politik- beziehungsweise sozialwissenschaftlicher Antisemitismusforschung.
Maria Coors