Marie-Theres Fojuth: Herrschaft über Land und Schnee. Eisenbahngeographien Norwegens 1845-1909 (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 7), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, X + 434 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70267-8, EUR 89,00
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Zu den wichtigsten Erinnerungsorten der jüngeren norwegischen Geschichte gehört zweifelsfrei die "Bergensbane". Sie wird - bis heute - vor allem als technische Meisterleistung gefeiert. Die Strecke von Drammen nach Bergen, die sich in west-östlicher Richtung erstreckt, hat knapp 500 km Länge, überwindet Höhen von bis zu 1.200 m und durchmisst beachtliche Tunnel. Die Bahnstrecke, deren Probebetrieb im Jahr 1908 aufgenommen wurde, steht aber nicht nur für die Ingenieurskunst des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, sie steht auch paradigmatisch für den Anspruch des noch jungen skandinavischen Königreichs, seine Geographie neu- bzw. umzugestalten. Diese Verbindung von Eisenbahn und Raumgestaltung steht im Zentrum der an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegten Dissertation.
Fojuth macht deutlich, dass König Haakon im November 1909 nicht einfach nur eine Eisenbahnstrecke eröffnete, sondern neue Möglichkeiten präsentieren konnte, mit denen sich räumliche Hindernisse, die man bislang als gegeben hingenommen hatte, nun endlich überwinden ließen. Mit dieser Bahnstrecke wurde ein Raum neu strukturiert. Zugleich wurde die Bergensbane aber auch zu einem Sinnbild nationaler Überhöhung, was sich bereits in den jahrelangen politischen Debatten abzeichnete, in denen es vor allem um die "nationsbildende Kraft" der sogenannten "Midtfjeldslinie" ging. Im Storting, dem norwegischen Parlament, aber auch in den verschiedenen Provinzen, Tageszeitungen und im Eisenbahnkomitee wurden jahrelang unterschiedliche "Soll-Geographien" (4) durchgespielt, bis sich schließlich mit der Verbindung Kristiania-Drammen-Bergen eine Streckenführung für die "nationsbildende[n] Schienen" (89) durchsetzte.
Die Bergensbane soll hier jedoch nur ein greifbares und vielen Lesern sicherlich auch bekanntes Beispiel vor Augen führen. Die vorliegende Monographie bezieht alle Strecken inklusive der nicht umgesetzten Netzpläne in die Analyse ein und nähert sich so dem Ziel zu verstehen, wie die norwegische Eisenbahngeographie entstanden ist. Fojuth verwendet für ihre Studie konsequent den Begriff der "Geographie(n)", um die "unauflösliche Verknüpfung vom räumlichen Ordnen und räumlicher Ordnung zu unterstreichen" (17). Den Begriff der "mental maps" kritisiert sie als zu statisch, während der Geographie-Begriff für ihr Erkenntnisinteresse geeigneter erscheint: Vor allem wenn es um das Aushandeln von Geographie in kommunikativen Prozessen geht, etwa wenn aus mehreren "individuellen Geographien [...] eine kollektive Geographie ständig neu ausgehandelt" werden muss (18).
Vor diesem Hintergrund erklärt sich von selbst, dass Fojuth zunächst den Blick auf die wichtigsten zeitgenössischen Akteure richtet und fragt, wer für den tatsächlichen Streckenverlauf der Eisenbahnen in Norwegen verantwortlich war. Als Hauptquellen dienen die "Storthings Forhandlinger", Protokolle und Drucksachen des norwegischen Parlaments. Diese untersucht die Autorin nach Wortführern verschiedener Interessensgruppen, vor allem aber nach bestimmten Diskursen und der damit verbundenen Chronologie des Sprechens über Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Konnten sich Ingenieure, Beamte, Geologen, Regionalpolitiker, Parlamentsabgeordnete oder Geschäftsleute besonders stark einbringen und dadurch andere Interessensgruppen überstimmen oder gar ausschalten? Welche gesellschaftlich-politischen Diskurse beeinflussten die Eisenbahngeschichte in einem der nördlichsten und sicherlich in vielen Regionen auch einem der unwirtlichsten Länder der Welt?
Mit diesen Fragen trägt Fojuth vordergründig vor allem zur norwegischen Technikgeschichte im Allgemeinen sowie zur Geschichte der norwegischen Eisenbahn im Besonderen bei. Das größte Verdienst der insgesamt beeindruckend vielfältigen und gut lesbaren Studie liegt aber in ihrem diskursanalytischen Ansatz. Welche - sprachlichen - Anker setzten politische Debatten im Storting, dem norwegischen Parlament in Kristiania? Wie veränderten technologische Errungenschaften, gesellschaftliche Ziele sowie ökonomische, demographische und nicht zuletzt nationale politische Entwicklungen das Sprechen über den Raum? (32f.) Damit berührt die Studie grundlegende Themenbereiche, die sie für diskursanalytisch, aber auch kulturgeographisch und nicht zuletzt landesgeschichtlich interessierte Leser ertragreich macht.
Die Struktur der Arbeit ist geradezu idealtypisch: Fojuth gibt zunächst den räumlichen Voraussetzungen des fjordzerklüfteten, langgestreckten und auf Schifffahrt ausgerichteten Landes sprichwörtlich Raum: Sie arbeitet heraus, welche Herausforderungen die weiten Entfernungen im 19. Jahrhundert für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt darstellten. Sie zeigt aber auch, inwiefern die schwierigen infrastrukturellen Bedingungen innerhalb Norwegens als Ursache für ein mangelndes nationales Solidaritätsgefühl der Bevölkerung wahrgenommen wurden.
Die Studie setzt sich aus drei Teilen zusammen, die mit "Überwindung", "Erschließung" und "Belebung" (der Landesteile) nicht treffender benannt werden könnten. Im ersten Teil rückt Fojuth die Überwindung der Entfernungen in den Vordergrund, wobei sie auch auf infrastrukturelle Pläne zum Kanalbau eingeht, der oft Hand in Hand mit Eisenbahnplänen eine Art "Landgang" der Seefahrer- und Hafennation Norwegen bedeutete (51-104). Unterkapitel widmen sich dann jeweils dem Diskurs der Bezwingung der Berge und der Überwindung der weiten Entfernungen, wobei dem norwegischen Leser sofort bewusst ist, dass die Eisenbahnschienen bis heute in Bodø enden und viele konkurrierende Netzpläne nicht umgesetzt worden sind.
Der zweite Teil zur "Erschließung Norwegens" (157-230) baut auf den Erkenntnissen des ersten Teils auf und rückt nun die Akteure, vor allem die Ingenieure bzw. deren Mythos als kosmopolitische Gestalter des Fortschritts in den Mittelpunkt (166). Den Bau von "Hochgebirgsbahnen" legten die norwegischen Akteure als eine Disziplin im Wettkampf der Nationen aus, an dem es sich zu beteiligen galt. Tauschten sich die - norwegischen - Ingenieure also deshalb mit deutschen, schweizerischen, aber auch amerikanischen Eisenbahnfachleuten aus? Hier wäre es vielleicht gewinnbringend gewesen, einzelne Ausbildungswege nachzuzeichnen, um deutlich zu machen, dass Norweger, die im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Ingenieursstudium anstrebten, ins Ausland ausweichen mussten. In Norwegen gab es keine entsprechenden Universitäten, und es entwickelten sich erst langsam Ingenieurshochschulen. Die Netzwerke, die Ingenieure im Verlauf des Studiums geknüpft hatten, wurden im späteren Berufsleben dann zu einem klaren Vorteil.
Ein eigenes Kapitel widmet Fojuth der "technokratischen Geographie" (173-184), in dem sie überzeugend auf die Natur als Wegweiser für geeignete Streckenführungen, aber auch auf die Natur des Nordens als Gegnerin eingeht. Das Bild der feindlichen Natur wird vielleicht am eindringlichsten durch Fotos von der Eröffnungsfahrt der Bergensbane im November 1909 vermittelt, die den Einsatz von Schneefräsen an der Lok dokumentieren. Zentral ist jedoch Fojuths Feststellung, dass der Eisenbahnbau in Norwegen "nie ein Akt von Technokratie [gewesen sei]: Die Ingenieure machten Vorschläge, doch das Storting entschied über die Bewilligungen." (173)
Vor diesem Hintergrund muss auch das Kapitel "Geographie als Verhandlungssache" (205-230) gelesen werden, das wie in einer Mikrostudie auf die parlamentarischen Aushandlungsprozesse eingeht und dabei auch zeitgenössische Karten berücksichtigt. Diese marginalisierten nämlich den weiten Norden des Landes im Verhältnis zum dichter besiedelten Süden im Großraum der Hauptstadt, sei es durch Maßstabsverzerrungen oder schlichtes Abschneiden eines großen Teils des Landes auf den politisch wirkmächtigen Karten, in denen Netzpläne veranschaulicht werden sollten (224f.).
Der dritte Teil der Studie konzentriert sich auf die Folgen und Konsequenzen des Eisenbahnbaus für die Gestaltung des Landes: "Landgewinn" durch infrastrukturelle Anbindung bislang abgeschiedener Regionen, Arbeitsbeschaffung als Mittel gegen die starke Auswanderung, aber auch neue Teilungen in einen Landesteil unterhalb und einen oberhalb der Baumgrenze. Am sinnfälligsten sind hier noch einmal die Bergensbane und deren höchstgelegene Station Finse als Beispiele für die "Erfindung eines Ortes" (308-311). Aus nur wenigen Hütten entwickelte sich Finse zu einem beliebten Wintersportort, was letztlich nur der Streckenführung der Bergensbane und den erfolgreichen touristischen Vermarktungsstrategien der norwegischen Schneelandschaften zu verdanken war. Die Auseinandersetzungen mit der von Menschen gestalteten Landschaft, landschaftsästhetischen Gesichtspunkten und der touristisch-wirtschaftlichen Vermarktung bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Vergleiche, nicht nur, aber gerade auch für umwelt- und tourismusgeschichtlich ausgerichtete Studien.
Insgesamt verdient die Monographie eine klare Leseempfehlung. Ein Personen- und Ortsregister ermöglicht zudem zielgerichtetes Nachschlagen. In Form eines Ausblicks spricht die Autorin selbst an, dass es interessant wäre, die Untersuchung bis ins 20. Jahrhundert auszuweiten und so eine Zeit in den Blick zu nehmen, in der die "technokratische Geographie" durch Landschafts-, Umwelt- und Klimaschutzbewegungen auf ganz neue Weise herausgefordert wird (358); Diskurse, die im Triumphtaumel um 1909 undenkbar gewesen wären.
Britta Kägler