Till van Rahden: Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, Frankfurt/M.: Campus 2019, 196 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51134-4, EUR 24,95
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Im Jahr 2018 gelangte eine aufsehenerregende Schrift zweier amerikanischer Politikwissenschaftler in die Bestseller-Listen der "New York Times": Sie trug den mahnenden Titel "How Democracies Die". Die bedrohlich wirkende Zeitdiagnose absterbender Demokratien bezog sich nicht nur auf Trumps Amerika, sondern erhob einen transnationalen Anspruch. Angesichts eines erstarkten Rechtspopulismus fand das bald auf Deutsch vorliegende Buch auch hierzulande einige öffentliche Resonanz. [1] Till van Rahden nennt diese Schrift gleich in seiner ersten Anmerkung, ergänzt um zahlreiche weitere Arbeiten gegenwärtiger Beobachter im gesellschaftsdiagnostischen Arztkittel, die mal mit, mal ohne therapeutischen Rat, in jedem Fall aber besorgt am Bett eines dahinsiechenden Patienten stehen.
Der in Montréal lehrende Historiker reiht sich nicht in die Phalanx der Gesellschaftspathologen ein. Ihn interessiert am Morbiden zunächst vor allem die schlichte Grundtatsache, dass es am Ende von etwas höchst Lebendigem steht. Insoweit gehört er nicht zu den Schwarzmalern und Untergangspropheten. Vielmehr will er aus der nüchternen historischen Betrachtung Ideen gewinnen, wie sich die besonders risikobehaftete Demokratie vital halten lässt.
Demokratie sei, so die Kernannahme des langen Essays (der in den drei Hauptkapiteln grundlegend überarbeitete frühere Aufsätze geschickt vereint), in erster Linie als Lebensform zu betrachten und näher zu ergründen, weniger als reine Herrschaftsform mit spezifischen Institutionen, Mechanismen und Prozessen des Politischen. Auch will van Rahden seinen Blick nicht so sehr auf das theoretische Ideal und die moralische Norm von Demokratie richten, sondern auf die konkrete Form, also jene Räume, Rituale, geschriebenen und ungeschriebenen Konventionen und Verfahren, in denen sich demokratische Erfahrungen sammeln ließen. Er schwelgt fast ein wenig, wenn er am Beispiel der bundesdeutschen Geschichte nach jenen Orten und Lebensformen sucht, die eine "Chance" boten, "Freiheit und Gleichheit im Alltag sinnlich zu erfahren" (22 und 139).
Van Rahden, der ideengeschichtlich belesen ist und gekonnt mit Denkfiguren von David Hume, Alexis de Tocqueville, Sidney Hook, Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Charles Taylor jongliert, argumentiert nicht zeitlos-abstrakt, sondern stets entlang historischer Szenarien. So sehr er Sympathien für eine Renovatio der Bürgergesellschaft erkennen lässt, wie sie einem Dolf Sternberger vorschwebte, bewegt er sich zur empirischen Unterfütterung des eigenen Anliegens doch intellektuell überwiegend einige Höhenmeter tiefer und sucht nach Stimmen in lokaler Presse, Verbandszeitschriften oder populären Magazinen. Vox populi im Spiegel der Demoskopie führt van Rahden als punktuellen Beleg ebenfalls an. Wie verquer der demokratische Kompass der (West-)Deutschen nach dem Ende des "Dritten Reichs" war, das belegen unter anderem frühe Allensbacher Meinungsumfragen. Auch der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss bekannte 1946 in einer Rede über "Deutschlands Zukunft", wie sehr die Deutschen, wenngleich sie sich nun "Demokraten nennen" mochten, "bei dem Wort Demokratie ganz vorn" anzufangen hätten "im Buchstabieren" (30 und 58). Das Bekenntnis zur Demokratie erschien zunächst inhaltsleer, auf eine leblose Hülle bezogen. Für den als britischer Intelligence-Offizier 1945 in die alte Heimat zurückgekehrten Emigranten Julius Posener, den van Rahden ebenfalls als Gewährsmann zitiert, griffen die Deutschen "nach dem hingehaltenen neuen Wort" Demokratie "wie nach einer Planke im Schiffbruch" oder "nach einem neuen Mäntelchen, das die Blöße bedecken soll, die nach dem Herunterreißen des braunen Hemdes sichtbar wurde" (31).
Anhand verschiedener Themenfelder und Konstellationen zeigt Till van Rahden, wie die Deutschen im Schatten von Diktatur und Gewalt die Demokratie unbeholfen, tastend und bisweilen tollpatschig zu erkunden lernten. Die Geschichte des moralischen Empfindens, die er jenseits philosophisch-rationaler Herleitungen nachzeichnet, stand "im Schatten der bösen Tat" (48), jener immensen Gewaltgeschichte bis 1945. Van Rahdens Leitfrage "Was heißt Demokratie als Lebensform?" stellte so schon Heuss im Jahr 1950. "Doch nur dies", lautete damals die Antwort: "dem Menschen, gleichviel wer er sei und woher er käme, als Mensch zu begegnen" (30).
Das Mitmenschliche ernst zu nehmen, einzuüben und zu erfahren, darin bestand also bereits für Heuss, weit über die neue demokratische Institutionenordnung und ein rechtliches Regelwerk wie das Grundgesetz hinausreichend, eine wesentliche Herausforderung. Van Rahden zeigt, wie schwer dies den Nachkriegsdeutschen fiel und wie unsicher sie bei der Herausbildung neuer moralischer Leidenschaften wie Leitvorstellungen agierten. Deswegen hält er auch wenig von der Rede einer "geglückten Demokratie" oder den linearen Meistererzählungen einer "Fundamentalliberalisierung". Zweifel seien ebenso gegenüber einer übermäßigen Betonung der Zäsur von 1968 angebracht. In seiner Schrift lässt van Rahden, wie er schreibt, "die fünfziger Jahre und Achtundsechzig näher zusammenrücken" (124). Wenngleich er neue Akzente setzt, befindet er sich damit im Einklang mit der dominierenden Auffassung einer ausgedehnten Transformationsperiode "langer 1960er Jahre". [2]
Zur Begründung bezieht sich der Autor weniger auf klassische Indikatoren der Politischen-Kultur-Forschung oder Wegmarken des intellektuellen Diskurses, als beispielsweise auf Zeugnisse für in Bewegung geratene Familien-, Geschlechter- und Erziehungsmodelle. Rund um das sogenannte Stichentscheid-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1959 erörtert van Rahden den Zustand einer patriarchalischen Geschlechterordnung in der frühen Bundesrepublik. Er kann zeigen, wie sehr sich schon während der Ära Adenauer Wandlungsprozesse abzeichneten und selbst katholische Familienexperten an überkommenen Modellen väterlicher Autorität Zweifel hegten. In der Figur einer demokratischen Vaterschaft, die "Zärtlichkeit" (96) und gegenseitiges Vertrauen zwischen Gleichberechtigten als Kategorien gegenüber überkommenen quasi-militärischen und strikt hierarchischen Vorstellungen von Befehl und Gehorsam aufwertete, kam eine Transformation des Autoritätsbegriffs zum Ausdruck.
Im Kleinen, im privaten Raum, in der Neufassung von Hierarchie- und Autoritätsmustern hin zu einem gleichberechtigten Miteinander begann für van Rahden Demokratie als Lebensform zu florieren. Auch die Entwicklung der Kinderläden, denen ein weiteres Kapitel gewidmet ist, trug zur weiteren Pluralisierung von Familien- und Erziehungsmodellen bei. Ungeachtet aller Sympathien für einen die Demokratie begünstigenden und erfahrbar machenden sozialmoralischen Wandel, bleibt van Rahden als Historiker, den Einzelfall scharf im Fokus, auf kritischem Beobachtungsposten. Er benennt deutlich, wie manche "Wolkenkuckucksheime der antiautoritären Theorie" (118) oder die "emanzipatorische Pathosformel 'Demokratisierung'" (39) bisweilen über das Ziel hinausschossen und der Demokratie - der konstitutionell eingehegten wie der gelebten - einen Bärendienst erwiesen.
Indem van Rahden an alte intellektuelle Grabenkämpfe zwischen neu-linken Verfechtern einer "Demokratisierung" und liberal-konservativen Anhängern einer parlamentarisch-repräsentativ geordneten Demokratie erinnert, unterstreicht er zudem, wie sehr der Streit der Meinungen ein Bestandteil der Demokratie als Lebensform ist. Um Streit aushalten zu können, bedarf es öffentlicher Räume als zugängliche, von Zwang befreite Ausprägungen einer "ungeselligen Geselligkeit" (wie Schwimmbäder, Parks, Bibliotheken und Plätze), von denen das letzte Kapitel handelt. Am Ende steht der Appell an uns alle, sich für solche "demokratische[n] Erfahrungsräume" (139) einzusetzen, um eine stets gefährdete Lebensform vor Siechtum zu bewahren. Mit seinen pointierten historischen Schlaglichtern sensibilisiert Till van Rahden in gekonnter Weise dafür, worin soziale und kulturelle Voraussetzungen der Demokratie bestehen, die zwar keiner Garantie unterliegen, aber eingeübt, erhalten, geschützt und gepflegt werden können. Dass sich diese Anstrengung lohnt, zeigt die bundesdeutsche Geschichte auch ganz ohne die Beschwernis eines Erfolgsparadigmas.
Anmerkungen:
[1] Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: How Democracies Die, New York 2018 (dt.: Wie Demokratien sterben, München 2018).
[2] Maßgeblich zur Begründung dieser Sichtweise: Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hgg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.
Alexander Gallus