Wilfried Reininghaus: Die vorindustrielle Wirtschaft in Westfalen. Ihre Geschichte vom Beginn des Mittelalters bis zum Ende des Alten Reiches (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge; 32), Münster: Aschendorff 2018, 3 Bde., 1536 S., 16 Tbl., zahlr. Abb., ISBN 978-3-402-15123-5, EUR 89,00
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Sieht man von den geradezu inflationär auf den Markt geworfenen Handbooks aus Cambridge und Oxford zu fast jedem Aspekt der Geschichtswissenschaft einmal ab, so ist die Handbuchproduktion, wenn auch nicht ganz ins Abseits geraten, doch einigermaßen in Verruf geraten. Dies gilt jedenfalls für Deutschland und erst recht für Handbücher aus der Feder eines einzigen Autors, da stets der Verdacht mitschwingt, dass der Inhalt nach jahrelangem Schreibprozess zum Zeitpunkt des Erscheinens entweder überholt oder aber lückenhaft ist. Allen solchen Vorbehalten zum Trotz hat nun der langjährige Leiter des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Wilfried Reininghaus, ein nicht nur in physischer Hinsicht gewichtiges Handbuch zur westfälischen Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches in drei Bänden mit zahlreichen hochwertigen und vielfach auch farbigen Abbildungen vorgelegt, das zweifelsohne nicht nur für die westfälische Landesgeschichte Maßstäbe setzt.
Das Ziel Reininghaus' ist es dabei nicht nur, die Ergebnisse der älteren und neueren Forschung zusammenzufassen und auf dieser Basis - und auch mit Hilfe von unpublizierten Archivalien - neue Fragen an die Wirtschaftsgeschichte Westfalens in der vorindustriellen Zeit zu richten sowie Forschungsdesiderate aufzuzeigen. Darüber hinaus verfolgt der Verfasser auch die zentrale Frage, welche Bedeutung die wirtschaftlichen Entwicklungen vor 1800 für die Industrialisierung Westfalens im 19. Jahrhundert besaßen, ohne dass die vorindustrielle Ökonomie dort nur als reine Vorgeschichte der Industriellen Revolution verstanden wird. Weitere erkenntnisleitende Fragen sind diejenigen nach Innovationen in der Untersuchungsperiode sowie danach, wie die Wirtschaftsstruktur der einzelnen Teilregionen beschaffen waren und wie sie ökonomisch untereinander und mit den außerwestfälischen Nachbargebieten verbunden waren.
Diesen Fragen geht Reininghaus nach einer Einleitung, in der er den allgemeinen Forschungsstand, die Definition seines Untersuchungsgegenstandes und die politischen Strukturen ausführlich erörtert, in fünf Hauptkapiteln nach, die nach Wirtschaftssektoren gegliedert sind.
Im ersten Band bildet dabei die Landwirtschaft den Gegenstand des ersten Hauptkapitels (Kapitel 2), in dem er in der Einleitung zunächst detailliert auf die Agrargeschichtsschreibung für Westfalen eingeht, bevor die naturräumlichen Bedingungen sowie die Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte des Raumes beschrieben werden. Weitere Unterkapitel beschäftigen sich mit der Art der Bodennutzung, der Agrarverfassung, den bäuerlichen Abgaben und Diensten, den ländlichen Sozialstrukturen und Betriebsgrößen, der Agrartechnik und Agrarreformen, der Waldnutzung sowie den Kulturpflanzen und Nutztieren, wobei die einzelnen Abschnitte stets nochmals weiter unterteilt sind. So ist das Unterkapitel Nutztiere z.B. nochmals untergliedert in die einzelnen Tierarten von Rindern bis Kaninchen, wobei den einzelnen Tierarten meist ausführlich Raum gegeben wird, den Bienen z.B. acht Seiten. Neben der Landwirtschaft, die den größten Teil des ersten Bandes einnimmt, enthält dieser noch Ausführungen über die Nutzung der Bodenschätze (Metalle, Steinkohle, Salz) und die die betrieblichen Strukturen der westfälischen Bergfabriken (Kapitel 3).
Der zweite Band widmet sich mit neun Unterkapiteln ausschließlich der Entwicklung des produzierenden Gewerbes (Kapitel 4), wobei Reininghaus nicht allein auf die wichtigsten Gewerbe (Metallwaren, Textilien, Kleidung, Nahrung und Hausbau) eingeht. Auch die Entwicklung der Medien, die Körper- und Gesundheitspflege sowie die Kulturproduktion werden hier behandelt, obgleich diese Wirtschaftszweige heute dem Dienstleitungssektor zugerechnet werden. Wie im ersten Band ist jeder dieser Abschnitte weiter unterteilt; so beschreibt der Verfasser z.B. nicht nur die einzelnen metallproduzierenden Regionen, sondern auch deren Institutionen, die verschiedenen Technologien und die Herstellung der einzelnen Warenarten (Waffen, Schneidwaren, Schlösser etc.). Ausführlich wird auch die Entwicklung der dezentralen Produktionszweige, etwa des örtlichen Handwerks nachgezeichnet.
Die Dienstleistungsbranchen bilden dann das Thema des fünften Hauptkapitels im dritten Band. Neben dem Handel widmen sich weitere Unterkapitel vor allem dem Geld- und Kreditwesen und dem Verkehr- und Transportsektor, während das Gastgewerbe und der öffentliche Dienst kürzer abhandelt werden. In den Ausführungen über den Handel geht Reininghaus auch ausführlich auf die Kaufmannschaft der einzelnen westfälischen Teilgebiete und Städte sowie den Fernhandel mit anderen europäischen Regionen ein, die er auch zu quantifizieren sucht. Im sechsten Hauptkapitel bietet der Verfasser schließlich eine konzise Zusammenfassung seiner Ergebnisse, die er jeweils für fünf Zeiträume (Mittelalter bis 1315, Spätmittelalter, lange 16. Jahrhundert, Dreißigjährige Krieg und Folgen, 18. Jahrhundert) chronologisch bündelt. Ausführlich widmet er sich dann für die letzte Periode seiner Hauptfrage, inwieweit die wirtschaftliche Entwicklung im 18. Jahrhundert direkt zur Industriellen Revolution nach 1800 hinführte, indem er sowohl die Konjunkturschwankungen und den Strukturwandel der Wirtschaftszweige nachzeichnet als auch auf die Rolle der territorialen Wirtschaftspolitik und der wirtschaftlichen Verflechtungen der einzelnen Teilregionen eingeht. Reininghaus betrachtet dabei speziell das 18. Jahrhundert als eine zentrale Vorbereitungsphase für die Industrialisierung nach 1815, in der sich wichtige Entwicklungen (Entstehung eines modernen Unternehmertums und Intensivierung des Fernhandels, Verflechtung mit den atlantischen Weltmärkten, Aufkommen neuer Technologien und Branchen, eine immer häufigere Durchsetzung des Marktprinzips im Gewerbe etc.) als Voraussetzung der Industriellen Revolution bereits vollzogen. Deshalb besaßen einzelne Regionen ein großes Entwicklungspotential (Technik, Unternehmer, Kapitelvermögen etc.) und wiesen im europäischen Vergleich nur gegenüber den britischen und wenigen kontinentaleuropäischen Regionen eine größere Rückständigkeit auf.
Den dritten Band beschließt dann ein umfangreicher Anhang mit einem fast 250seitigen Literaturverzeichnis und einem Orts- und Personenregister im Umfang von beinahe 200 Seiten. Es wäre allerdings falsch, das Werk als ein reines Nachschlagewerk über den Forschungsstand zu betrachten, auch wenn es in dieser Hinsicht sicherlich für Jahrzehnte nützliche Dienste leisten wird und nicht nur zahlreiche Anregungen für die weitere Forschung der Wirtschaftsgeschichte Westfalens, sondern auch eine Referenz für die Entwicklung vorindustrieller Ökonomien anderer Landschaften und Regionen bietet.
Reininghaus' Lebenswerk stellt vielmehr eine Übersicht einer regionalen Wirtschaftsgeschichte dar, in der er am Beispiel Westfalens theoriegeleitetet und mit durchdachtem Methodenbewusstsein die Entwicklung der vorindustriellen Wirtschaft, deren immer stärkere Ausdifferenzierung und ihre Bedeutung für die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts detailliert herausarbeitet. Zugleich reiht er sich nicht nur in die ältere Tradition landes- und regionalgeschichtlicher Darstellungen einzelner Großregionen wie Eckart Schremmers Analyse der Wirtschaft Bayerns ein, sondern schließt - indem er auf die einzelnen Wirtschaftsregionen des westfälischen Raumes eingeht - auch an die Forschungen zur regionalen Industrialisierung an, auch weil die vorindustrielle Ökonomie stets eine regional und lokal verortete war. Vor allem aber macht Reininghaus' westfälische Wirtschaftsgeschichte der vorindustriellen Zeit deutlich, dass es ein Fehler ist, wenn sich die deutsche Industrialisierungsforschung - anders als in der internationalen Forschung üblich - immer noch zu stark allein auf die nach 1815 einsetzende Industrialisierung konzentriert und die Wirtschaftsentwicklung des 18. Jahrhunderts wegen der in den borussophilen und liberalen Meistererzählungen des 19. Jahrhunderts geschmähten merkantilistischen Wirtschaftspolitik und wegen der ständischen Restregulierungen vor 1800 als unbedeutend für die industriellen Aufschwung des 19. Jahrhunderts wahrnimmt. Auch deshalb ist Reininghaus' Opus Magnum nicht nur denjenigen zur Lektüre empfohlen, die sich für die Entwicklung der vorindustriellen Wirtschaft Westfalens interessieren, sondern auch allen an der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit vor und nach 1815 Interessierten.
Ralf Banken