Jürgen Luh / Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hgg.): Machtmensch - Familienmensch. Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), Münster: Aschendorff 2020, 260 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-402-13419-1, EUR 24,90
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Es könnte so scheinen, als verblasste das Wissen über Brandenburg-Preußen immer mehr, das akademische, aber noch mehr das öffentlich verbreitete. Unlängst wies die FAZ mit fetten Überschriftslettern über mehrere Spalten auf eine in Oranienburg bei Berlin eröffnete Ausstellung "Zum zweihundertsten Geburtstag" des "Großen" Kurfürsten Friedrich Wilhelm hin [1], dieser geboren 1620 im Schlosse zu Berlin. In solchen Lagen kommt es vor, dass manches neuer erscheint, als es tatsächlich ist. Der vorliegende Band, publiziert zu dieser Schau, bietet dafür einige gute Exempel.
Die Polarität von "Machtmensch" und "Familienmensch" wirkt originell, geeignet für gelegentliche geschlechts-, auch emotionshistorische Anschlüsse, freilich um der Gefahr willen, mit dem Topos des Familienmenschen Assoziationen zu wecken, die das spezifisch Frühneuzeitlich-Dynastische unhistorisch "privatisieren". An einigen Stellen dieses Sammelbandes werden neuere Forschungsfragen aufgegriffen in Beiträgen, die zu einem guten Teil von Nachwuchskräften verfasst worden sind und die - das ist ganz natürlich - zunächst einmal auf einem sehr speziellen Themenfeld festen Grund zu finden suchen, Detailstudien prosopografischen Inhalts zu Neben- und Randfiguren des politisch-höfischen Lebens zwischen 1640/50 und 1688. Diese Abhandlungen wechseln mit knapp-innovativen Objektbeschreibungen zu schönen Stücken aus brandenburgischen Sammlungsbeständen. Positiv beeindrucken die häufigen Verweise auf archivalische Bestände (etwa Irena Kozmanová zu Prinz Wilhelm Heinrich 1648/49). Es handelt sich bei diesen kleinen Studien zu Dynastinnen und nachgeborenen Prinzen, zu hohen Amtsträgern und zu Erbschaftsprojekten also nicht um Literaturreferate, doch halten sich die neuen Perspektiven in den spezialistischen Grenzen, und es bleibt die didaktische Frage, was Ausstellungsbesucher aus der Laienwelt denn daraus wohl schöpfen können.
Betrachten wir die grundsätzlicheren Beiträge dieses Sammelbandes. Ihr Ertrag ist, das kann nicht verwundern, recht unterschiedlich in Informationsgehalt und Originalität. Nach einer knappen Einführung der drei Herausgeber gibt Jürgen Luh "eine biographische Skizze Friedrich Wilhelms", in der er auf die "Unsicherheit" und mancherlei Schwankungen in der Politik dieses Monarchen hinweist (20, 27 und öfter), auf die häufigen Bündniswechsel Kurbrandenburgs, für die die ältere Historiografie den Topos vom Wechselfieber geprägt hatte. Dass der Westfälische Friede den Status Brandenburgs kaum verändert habe (25 f.), wird aber schwerlich behauptet werden können; die Gleichstellung der Reformierten im Heiligen Römischen Reich und der Territorialzuwachs im Mittelelberaum besaßen - vom Kurfürsten gewiss unterschätzt - hohe strategische Bedeutung für die künftige Entwicklung. Kurbrandenburg wuchs tiefer hinein in das Alte Reich.
Die Neigung, die Politik Friedrich Wilhelms zu modern und im Lichte späterer Entwicklungen zu deuten, hat die (internationale) Forschung seit Jahrzehnten überwunden. Zu den erstaunlichen Traditionsbeständen in Theorie und Praxis Friedrich Wilhelms gehört die alles andere als durchweg "absolutistische" Politik in den Landschaften. In seiner späten Zeit hat der Monarch mit Landständen bzw. altem Adel eng kooperiert und allzu forsche unter seinen Amtsträgern - sagen wir: - zurückgepfiffen. Michael Kaiser referiert aus einem Bericht kleve-märkischer Ständedeputierter, die 1679 nach Potsdam-Berlin reisten - eine interessante Quelle, der ganz ähnliche Archivalien aus östlicheren Landschaften der Hohenzollern zur Seite gestellt werden könnten. War es wirklich gezielte Distanz, die den Umgang von Kurfürst und Ständevertretern bestimmte, oder nicht vielmehr eine auffallende Varianz von Distanz und Nähe, wenn der Monarch bei solchen Gelegenheiten zum Teil ganz frei vom Zeremoniell agierte? [2] Das gedämpfte Resultat Kaisers ist eben das von Otto Hoetzsch aus dem Jahr 1908, der auf diese Quelle schon hinwies [3], was die Frage aufwirft, ob derartige Ständedeputationen nicht sehr viel mehr kommunikativen Zielen, solchen der Informationsbeschaffung dienten, als dass sie auf unmittelbare Verhandlungseffekte aus waren. Die Stände aus Preußens Westen haben dieses Instrument noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschätzt. [4]
Jonas Bechtold referiert aus dem Tagebuch des vielleicht interessantesten Amtsträgers aus der Zeit Friedrich Wilhelms, Otto von Schwerin. Aus dieser Quelle sind seit den 1830er Jahren schon des öfteren Bruchstücke publiziert wurden, die nun aber in einer modernen Edition vorgelegt werden soll, eine Standardquelle nicht zuletzt zur Prinzenerziehung in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Frank Göse, Professor in Potsdam, analysiert das Verhältnis von Kurfürst und Kurprinz, zumal in den 1680er Jahren. Teile der Forschung waren recht irritiert, als vor zwanzig Jahren die Mitregierung des späteren Friedrichs III. seit etwa 1680 nachgewiesen werden konnte. Ob, so noch Göse (160), ihm nur "minder wichtige" Materien überlassen wurden, bliebe noch zu diskutieren. Immerhin gehörten auch Steuerverhandlungen dazu. Auch Göse schöpft aus archivalischem Material, das er wie wenige sonst beherrscht.
Dagegen rennt Andreas Pečar mit großem Aplomb Türen ein, die jetzt seit einhundertfünfzig Jahren offenstehen: die Bedeutung der Teilungsverfügungen Friedrich Wilhelms aus verschiedenen Phasen seiner Regierung. [5] Die eilige Lektüre scheint nicht immer eine gründliche gewesen zu sein, und wenn der Autor im einschlägigen Handbuch Informationen zu den Teilungsdispositionen vermisste, hätte es nur der Lektüre weniger weiterer Seiten bedurft, um alles zu finden. [6] Dort finden sich auch alle weiteren Belege dafür, dass die Forschung seit Jahrzehnten von der Auffassung abgerückt ist, dass der moderne (preußische) Staat schon in das 17. Jahrhundert vordatiert werden dürfe.
Auch an anderen Stellen des Bandes gibt es Indizien dafür, dass Altbekanntes als neu präsentiert werden soll, so die Entdeckung von agilen Hofparteien oder die seit Jahrzehnten erkannte Rolle der Dynastinnen. Manche historiografische Einordnung liegt einfach daneben. [7] Nicht jeder, der vor hundert Jahren über Preußen schrieb, war ein Borusse [8], nicht jeder Bayer ein Bajuware. Etwas zu rasch wird in dieser Aufsatzsammlung, die eine gemischte Bilanz aufzeigt, der Ruf nach Innovation reklamiert. Um 1890 waren es die Erforscher der Archivalien aus der Zeit des Großen Kurfürsten, die recht radikal mit der nationalborussischen Legende brachen - vor jetzt genau 130 Jahren. Hätte das nicht einen Hinweis gelohnt?
Anmerkungen:
[1] Andreas Kilb: Das Gewicht einer Krone, in: FAZ, 23. Mai 2020, 11, verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/schloss-oranienburgs-erbe-das-gewicht-einer-krone-16780023.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2.
[2] Mit weiterer Literatur zu ständischen Deputationen die Bestandsübersicht: Margot Beck / Wolfgang Neugebauer (Hgg.): Neumärkische Stände (Rep. 23 B) (= Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs; Bd. 9), Frankfurt am Main [u.a.] 2000, XXXV f.
[3] Zu dieser Quelle Otto Hoetzsch: Stände und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697, Leipzig 1908, 623 f.
[4] Siehe das Vortragsreferat von Otto Hintze, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 11 (1898), 556.
[5] Vgl. schon Bernhard Erdmannsdörffer: Das Testament des großen Kurfürsten, in: Preußische Jahrbücher 18 (1867), 429-441, bes. 434 f., 437 und die Literatur: Wilhelm Brauneder (Hg.): Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte (= Beihefte zu "Der Staat"; Bd. 12), Berlin 1998, hier 86, mit Beiträgen, die zeigen, dass Pečars These schon längst vor ihm präsent war.
[6] Vergleiche Pečar, 188, Anm. 4 mit: Handbuch der Preußischen Geschichte, Band 1, Berlin / New York 2009, 228 ff.
[7] Vergleiche die Einleitung, 15, wo die berühmte Einführung von Georg Küntzel (in: Leopold von Ranke: Zwölf Bücher Preußischer Geschichte [Gesamtausgabe der Deutschen Akademie], Band 1, München 1930, VII-CLII) irrig Paul Joachimsen zugeschrieben wird - was einen historiografisch erheblichen Unterschied macht.
[8] Vergleiche im Sammelband etwa 14, 104, 131.
Wolfgang Neugebauer