Karin König: Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben. Hermann Flade - eine Biographie, Berlin: Lukas Verlag 2020, 200 S., ISBN 978-3-86732-353-6, EUR 19,80
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Dass die DDR ein Unrechtsstaat war, zeigt Karin König meisterhaft in einer Biografie, die sie über den heute fast vergessenen Hermann Flade vorgelegt hat. Er galt in den 1950er Jahren in beiden deutschen Staaten als eine Symbolfigur für den Widerstand gegen die SED-Diktatur.
Als 18-jähriger Oberschüler protestierte Hermann Flade (1932-1980) in Olbernau im Erzgebirge gegen die ersten Volkskammerwahlen am 15. Oktober 1950, die er aus seiner demokratischen Überzeugung heraus ablehnte. Im Alleingang bedruckte er mit einem Stempelkasten 200 Flugblätter mit Losungen gegen den Wahlbetrug und die Zustände in der DDR und verteilte sie in Hausbriefkästen. Als ihn eine Streife der Volkspolizei dabei überraschte, konnte er sich der Festnahme zunächst entziehen, wobei er einen Polizisten mit einem Taschenmesser leicht am Rücken verletzte. Doch schon einen Tag später wurde er verhaftet.
Mit seinem individuellen Protest hatte Flade die sozialistische Gesellschaftsordnung in Frage gestellt. Deshalb wollten SED und MfS zur Abschreckung ein Exempel statuieren. Am 10. Januar 1951 verurteilte das Landgericht Dresden Flade nach nur einem Verhandlungstag zum Tode. Die als Schauprozess inszenierte Gerichtsverhandlung, die im Olbernauer Theater-, Konzert- und Ballhaus Tivoli stattfand, verfehlte jedoch ihren Zweck: Der Angeklagte folgte nicht dem Drehbuch, sondern verwandelte selbst das Tribunal in eine Schaubühne, als er die katastrophalen Bedingungen im Uranerzbergbau anprangerte und die Hoffnung vieler Jugendlicher artikulierte, nach der nationalsozialistischen Diktatur in einer demokratischen Gesellschaft leben zu wollen. Großen Mut bewies er, als er sich dazu bekannte, aktiv gegen die DDR zu kämpfen. Als er seinen Richtern den Satz "Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben" entgegenrief, wurde die Übertragung der Verhandlung auf den Vorplatz des Ballhauses Tivoli und im Rundfunk sofort abgebrochen.
Die Verhängung der Todesstrafe gegen einen Schüler stieß in großen Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis und Entsetzen und führte zu breiten internationalen Protesten. Dieser Druck zwang SED und MfS, am 29. Januar 1951 das Terrorurteil in eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren umzuwandeln.
Für die Autorin war die Flugblattaktion Flades Vorbild für die vielfältigen Protestaktionen, mit denen zahlreiche Jugendliche gegen die SED-Diktatur aufbegehrten und sich dabei vielfach auf den Olbernauer Oberschüler beriefen. Es gelingt König, das Phänomen der Jugendproteste in der Gesamtgeschichte des Widerstands und der Opposition gegen die SED-Diktatur zu verorten: Viele Jugendliche hatten als Kinder die NS-Herrschaft erlebt und wollten nun in einer demokratischen Gesellschaft leben. So sagte Flade über seinen Protest: "Ich dachte manchmal an die Nazis". Er wollte sich "später keine Vorwürfe machen lassen". (26) Wie viele junge Menschen schöpfte auch Flade Kraft aus seinem religiösen Bekenntnis - sein katholischer Glaube immunisierte ihn gegen die sozialistische Ideologie. Letztlich gelang es den jungen Menschen nicht, die DDR zu verändern. Aber die Herrschenden waren herausgefordert und konnten den Protesten nur begegnen, indem sie in ihrer "argumentativen Dürftigkeit" (184) fälschlicherweise behaupteten, sie würden vom Westen gesteuert.
Flade zählte zu den prominentesten politischen Häftlingen der DDR. In den Gefängnissen Bautzen, Torgau und Waldheim genoss er aufgrund seiner klaren Ablehnung der SED-Herrschaft hohes Ansehen bei seinen Mitgefangenen und traf auf Menschen, die gegen seine Verhaftung protestiert hatten. Die Autorin untersucht die unmenschlichen Haftbedingungen, die ihn letztlich dazu zwangen, mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten, und den Selbstbehauptungswillen des Inhaftierten.
Zu den Vorzügen der Biografie gehört, dass die Autorin auch den Lebensweg Flades nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus am 28. November 1960 im Westen in den Blick nimmt. Er holte sein Abitur nach, gründete eine Familie und studierte in München und Mainz politische Philosophie. 1967 promovierte er mit dem Thema "Politische Theorie in der abendländischen Kultur" und schrieb sein Erlebnisbuch "Deutsche gegen Deutsche". In seiner Dissertation verstieg er sich zu einem Vergleich zwischen der "Posener Rede" Heinrich Himmlers von 1943 und einem Aufruf des SED-Propagandachefs Albert Norden aus dem Jahr 1963 zur Rechtfertigung des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze. Flade bewertete beide Reden als "substantiell identisch", da sie angeblich beim "organisierten Verbrechen" endeten. Für König verfällt Flade mit der radikalen Gleichsetzung der mörderischen Implikationen in eine "Vereinseitigung" und eine Gleichsetzung der Herrschaft der Nationalsozialisten und der SED, von der sich die Autorin deutlich mit Verweis auf die quantitativen und qualitativen Unterschiede der Mordpraxis des NS-Staates in den Vernichtungslagern und der Todesschüsse an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze distanziert.
Wichtig war Flade, in vielen Vorträgen über die Verbrechen der SED aufzuklären und vor einer sozialistischen Diktatur zu warnen. Er orientierte sich am Freiheitsbegriff Hannah Arendts, den er als eine unverzichtbare Grundlage der parlamentarischen Demokratie ansah.
Die Autorin befasst sich auch mit den großen Schwierigkeiten Flades, sich im Westen zu integrieren. Zeitlebens sah er sich als Opfer der Entspannungspolitik und befürchtete, die zu Unrecht von der politischen Justiz im Osten Deutschlands verurteilten Frauen und Männer könnten vergessen werden. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete er als Referatsleiter im Gesamtdeutschen Institut in Bonn. 1980 erlag Hermann Flade kurz vor seinem 48. Geburtstag den gesundheitlichen Spätfolgen seiner Haft.
Es ist ein großes Verdienst Königs, dass sie neben einem reichen Fundus schriftlicher Quellen auch die großen Möglichkeiten der oral history herangezogen hat. Diese Biografie setzt nicht nur Hermann Flade ein Denkmal. Sie ist darüber hinaus ein gelungenes Plädoyer, die deutsche Geschichte nach 1945 nicht in zwei Teilstaaten zu gliedern, sondern in ihrer Gesamtheit zu erzählen.
Stefan Donth