Ilko-Sascha Kowalczuk / Arno Polzin (Hgg.): Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit (= Analysen und Dokumente; Bd. 41), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 1059 S., ISBN 978-3-525-35115-4, EUR 69,99
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"Fasse Dich kurz!" ist ein großer Wurf. Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin haben ein Schwergewicht zur Geschichte der Opposition in der DDR herausgegeben und 151 hervorragend edierte Dokumente vorgelegt - eine Auswahl aus tausenden Protokollen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) über abgehörte Telefonate, die Gegner der SED-Diktatur zwischen Ost und West von 1985 bis 1989 führten.
Die Auflistung der Beteiligten ist ein "Who's who" der DDR-Opposition: Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Gerold Hildebrand, Ralf Hirsch, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Ulrike und Gerd Poppe, Lutz Rathenow, Reinhard Schult, Vera Lengsfeld, Wolfgang Rüddenklau, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Werner Fischer sind nur einige der über 200 "Mitwirkenden". Viele von ihnen hat die Stasi in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen eingesperrt und einige später in den Westen abgeschoben. Allen, die ihr Einverständnis zum Abdruck der oft sehr persönlichen Aufzeichnungen erklärt und dadurch zum Gelingen dieser Publikation beigetragen haben, ist dafür zu danken, dass diese Hinterlassenschaft des MfS für die Forschung genutzt werden kann.
Kowalczuk stellt die Abhörpraxis des MfS vor, das Ende der 1980er Jahre in der DDR 4000 Telefonanschlüsse, davon 1400 in Ost-Berlin, gleichzeitig überwachte. Das war vielfach ein permanenter Bruch des im Artikel 31 der DDR-Verfassung von 1974 verbrieften Post- und Fernmeldegeheimnisses. Den abgehörten Telefonaten kommt, wie Kowalczuk nachweist, ein hoher Stellenwert im Gesamtkontext der Repressionsstrategie der SED zu. Zur konspirativen Überwachung der DDR-Bevölkerung gehörten auch Wohnungsdurchsuchungen und Postkontrollen. Hauptinstrument der Bespitzelung waren die Inoffiziellen Mitarbeiter. Die gewonnenen Erkenntnisse nutzte die Geheimpolizei, um ihre Zersetzungsmaßnahmen zu "optimieren" und die Debatten zu beeinflussen, die die Oppositionellen miteinander austrugen. Die Stasi war meist dabei, wenn sich Bürgerrechtler kontrovers darüber austauschten, wie das kommunistische Herrschaftssystem zu überwinden sei oder ob lediglich das Herrschaftsmonopol der SED durch eine Reformierung des Sozialismus und systemimmanente Veränderungen beseitigt werden sollte.
Perestroika, Wirtschaftskrise und Massenflucht bildeten den Nährboden, von dem aus Mitte der 1980er Jahre die Opposition zu einer beachtlichen gesellschaftlichen Kraft heranwuchs, die das MfS immer weniger in den Griff bekam. Die Unzufriedenheit über die Zustände in der DDR reichte weit über die oppositionellen Gruppierungen hinaus. Im Juni 1987 gingen MfS und Polizei gegen mehrere tausend Jugendliche vor, die am Brandenburger Tor ein Rockkonzert verfolgen wollten, das auf der westlichen Seite vor dem Reichstag stattfand. Von den spontanen Protesten gegen Mauer und Unfreiheit wurden SED und Opposition gleichermaßen überrascht.
Andreas Schmidt und Arno Polzin befassen sich mit den Aufgaben der Hauptabteilung III des MfS, die den innerdeutschen Telefonverkehr überwachte. Sie erläutern die Technik, mit der die Geheimpolizei Telefonate mithörte und auswertete. 1985 begann die Stasi, Stimmbanken anzulegen, um Stimmen einzelnen Gesprächsteilnehmern zuordnen zu können. Die Entwicklung einer automatischen Stimmenidentifizierung gelang dem MfS jedoch nicht mehr.
Angela Schmole widmet sich der Abhörpraxis der MfS-Abteilung 26 im örtlichen Telefonnetz der "Hauptstadt der DDR". Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das Abhören durch die veraltete Telefontechnik erleichtert wurde. Die Stasi betrieb einen enormen Aufwand: In mindestens 25 Abhörstützpunkten, die über ganz Ost-Berlin verteilt waren, überwachten 500 MfS-Mitarbeiter den Telefonverkehr.
Ein bewegendes Zeitzeugendokument hat Wolfgang Templin beigesteuert. Mit viel Empathie zeichnet der Bürgerrechtler ein Gruppenporträt der Oppositionellen. Diese Charaktere sind es, die mit ihren gegen die SED gerichteten Aktivitäten dem Leser in 151 Dokumenten vorgestellt werden. Die Mühe lohnt, sich mit diesem einzigartigen Quellenbestand auseinanderzusetzen und in die Binnengeschichte der Opposition einzutauchen: mitzulesen, wie die Abgehörten Ideen für Texte entwickelten, sich untereinander vernetzten und sich nicht unterkriegen ließen von den Zersetzungsmaßnahmen der DDR-Geheimpolizei. Es sind beeindruckende Zeugnisse eines analogen Informationsmanagements aus einer Zeit vor Smartphone und Internet-Techniken, die heutzutage beim Kampf für die Menschenrechte zur Verfügung stehen, z.B. während des Arabischen Frühlings, in der Türkei oder der Ukraine.
In den Dokumenten wird zudem der große Stellenwert der Unterstützung deutlich, den die oppositionellen Gruppierungen aus dem Westen erhielten. Roland Jahn und Jürgen Fuchs standen nach ihrer Abschiebung aus der DDR von West-Berlin aus der Opposition zu Hause mit Rat und Tat zur Seite. Sehr hilfreich waren Kontakte zu westlichen Journalisten, u.a. zu Ulrich Schwarz (Der Spiegel) und Hans-Jürgen Börner (ARD). Hingegen setzten sich nur wenige westliche Politiker wie beispielsweise Petra Kelly, Gerd Bastian und Wilhelm Knabe von den Grünen sowie Ulf Fink und Eduard Lintner aus der Union für die Belange der Bürgerrechtsbewegung ein. Die Aktivitäten in Ost und West erzeugten eine Öffentlichkeit, die zum einen als Schutzschirm vor dem Zugriff des SED-Regimes wirkte und die es zum anderen ermöglichte, die Forderungen der Opposition nach einer anderen Gesellschaft in die Bevölkerung zu tragen.
Die Dokumente erlauben nicht nur einen umfassenden Blick hinter die Kulissen. Vielmehr werden zwei Ereignisse der Oppositionsgeschichte besonders plastisch. So ist der Leser fast live dabei, als im November 1987 die Stasi die Umweltbibliothek stürmte oder im Januar 1988 mit Repressalien und Verhaftungen gegen zahlreiche Bürgerrechtler vorging, die mit eigenen Losungen an der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration teilgenommen hatten. Beide Ereignisse haben die Entwicklung mit angestoßen, die in die friedliche Revolution mündete. Als im Herbst 1989 dann immer mehr Ausreisewillige und eine stetig wachsende Zahl "normaler" Bürger hinzukamen, wurde in Leipzig - aber nicht nur dort - die Herrschaft der SED wegdemonstriert.
"Fasse Dich kurz" ist ein unverzichtbares Standardwerk zur Opposition in der DDR. Es gehört mit seiner Quellenorientierung und den dadurch ermöglichten Einsichten in die Binnenwelt der Opposition zu den bemerkenswerten Arbeiten der vergangenen Jahre zur Geschichte der Endphase der DDR.
Stefan Donth