Rezension über:

Frank Uekötter: Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, Frankfurt/M.: Campus 2020, 838 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51315-7, EUR 49,00
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Rezension von:
Anselm Tiggemann
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Anselm Tiggemann: Rezension von: Frank Uekötter: Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, Frankfurt/M.: Campus 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/34530.html


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Frank Uekötter: Im Strudel

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Die Metapher vom "Strudel" ist sehr eingängig, wenn es darum geht, die Eigenarten einer Umweltgeschichte der modernen Welt zu erfassen, denn sie verbindet "Eigendynamik und Urgewalt mit einem Element des Chaos und der Unplanbarkeit". Wenn man sich einen Strudel anschaut, sieht man, "wie Dinge in Bewegung kommen, wie sie sich verändern, wie sie kollidieren und neue Verbindungen eingehen" (642).

Damit wendet Uekötter ein anderes Strukturprinzip als die bisher einschlägigen globalen Umweltgeschichten an. [1] So entgeht der deutsch-britische Umwelthistoriker der Versuchung, durch eine "Containertheorie nationalstaatlicher fokussierter Analysen" oder die Trennung in "biologische Sphären", die Dynamik, Verknüpfungen und Verschränkungen zu übersehen, die für ihn ein Wesensprinzip einer globalen Umweltgeschichte darstellen. Auch das im letzten Jahrzehnt in Mode gekommene Konzept des Anthropozäns, eines Zeitalters der unumgänglichen Veränderung der Erde durch den Menschen, lehnt Uekötter als "Worthülse" ab.

Das "Strudel"-Konzept schafft den Freiraum, um die acht Teile/Kapitel des Buches in einer unkonventionellen und assoziativen Weise zu gliedern. Dies unterstreicht Uekötter, indem er ausdrücklich andere Zugänge als die lineare Lektüre von vorne bis hinten vorschlägt. So zeigt er nicht nur verschiedene Wege durch das Buch auf (15 ff.), im Text finden sich auch kursiv gedruckte Querverweise zu Stichwörtern, die in anderen Kapiteln näher erläutert werden. Einerseits eröffnet das für den sehr gut zu lesenden Text, die Freiheiten eines Lesebuchs, das man je nach freien Zeitfenstern häppchenweise konsumieren kann, andererseits geht das zu Lasten eines systematischen Aufbaus mit einer konsistenten Argumentation, die aufeinander aufbaut. Aber das will Uekötter auch gar nicht: Für ihn geht es nicht um eine konsistente, in sich geschlossene Darstellung, die erklären will, wie die Menschheit dem "Strudel" entkommen kann. Sondern es geht ihm darum, den Facettenreichtum einzufangen, wie Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen immer wieder mit anderen oder ähnlichen Umwelteinflüssen umgegangen sind.

Damit hebt sich "Im Strudel" von Darstellungen ab, welche ex post mit wohlfeilen Werturteilen und Belehrungen vermeintliches Versagen und Versäumnisse historischer Persönlichkeiten mit dem Anspruch anprangern, eine umfassende Erklärung oder gar Lösung der Probleme zu bieten.

"Im Strudel" ist eher ein langer Essay als eine im deutschen Schreibstil verfasste Monographie - hier werden auch keine begrenzenden Begriffsbestimmungen benötigt: Die breite Definition von Umwelt, die dem Buch zugrunde liegt, ist die "Gesamtheit der menschlichen Grundlagen in materieller Hinsicht". Entsprechend breit ist das abgehandelte Themenspektrum, das von der Geschichte des Landbesitzes über die Rolle von Technik und internationalen Konventionen zu Umweltfragen bis zum Hunger moderner Gesellschaften nach Rind- und Geflügelfleisch reicht.

Die acht Kapitel sind jeweils einem Meta-Thema gewidmet: Es geht um "Grundbedürfnisse", "Aneignungen", "Unumkehrbar", "Die Macht der Technik", "Umbrüche", "Die Letzten Reserven", "Das Katastrophenzeitalter" und "Die große Sklerose". Unter diesen Überthemen werden sehr unterschiedliche Phänomene behandelt. Bei "Die große Sklerose" geht es um so verschiedene Themen wie das Käfighuhn, Atome ohne Grenzen, DDT, die Katastrophe des Öltankers Torrey Canyon und die Plastiktüte. Dabei ist die Zuordnung des Themas zu einem Überthema durchaus plausibel, aber nicht zwingend. Es könnte also auch in einem anderen Teil stehen.

Die jeweiligen Themen werden geschickt mit Personen und Hintergründen kombiniert, so dass man nach dem Beginn eines Kapitels gerne weiterliest. Dabei werden en passant wichtige Grundlagen vermittelt, wie die Herkunft des Begriffes Nachhaltigkeit (63 ff.) im Kapitel über die Forstwirtschaft oder der Mechanismus der Externalisierung (619-623) in der Schlussbemerkung.

Auch werden viele der "klassischen" Verschmutzungsthemen routiniert abgehandelt, beispielsweise die Luftverschmutzung und der Londoner Smog von 1952. Auch die mannigfachen Probleme, die mit der modernen industriellen Landwirtschaft verbunden sind, sei es Trinkwasserverseuchung durch Überdüngung, Anfälligkeit für Schädlinge bei Monokulturen o.ä. wird durch Beispiele in verschiedenen Erdteilen und unterschiedlichen Zeiten kenntnisreich auf den Grund gegangen, sei es beim Baumwollkapselkäfer oder der United Fruit Company sowie bei der industriellen Massentierhaltung anhand der Chicagoer Schlachthöfe oder des Käfighuhns.

Nach den acht Teilen von "Im Strudel" fällt Uekötters Bilanz jedoch mager aus: "In aller Regel bleibt am Ende der Reise ein Sammelsurium von Institutionen, Topoi, Mentalitäten und Technologien über, das sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Insofern geht es in den Kapiteln immer wieder um die Inkohärenz, Nichtlinearität, und Multidimensionalität unseres kollektiven Umgangs mit ökologischen Herausforderungen." (661) Positiv ist, dass Uekötter damit die vielen verschiedenen Ergebnisse nicht einseitig oder eindimensional interpretiert. Er hält sich mit Wertungen zurück. Am Ende gibt es keine klare "Frontlinie" mit "Helden", "Schurken" und "moralischen Gewissheiten" (646). Einerseits tut diese Zurückhaltung gut und verhindert ein kurzsichtiges und vereinfachtes Erklärungsmuster. Andererseits wirft es die Frage auf, ob das der exponentiellen Zunahme von Verseuchungs- und Zerstörungspotentialen, die der moderne Mensch gerade in den letzten hundert Jahren angehäuft hat, gerecht wird. Sollte nicht zumindest versucht werden, die Bewältigungsstrategien aus verschiedenen Kontinenten und Zeiten zu systematisieren und historische Ansätze zur Veränderung des destruktiven Verhaltens aufzuzeigen?

Man hat man am Ende des Bandes vor allem gelernt, wie unterschiedlich die Zugänge zu Umweltproblemen in der modernen Welt sind und dass es weder ein "wahr" noch "falsch" der unterschiedlichen Sichtweisen gibt. Dem Rezensenten drängt sich nach der spannenden und kurzweiligen Lektüre jedoch die Frage auf, ob zu dieser Erkenntnis eine so breit angelegte Synthese nötig ist? Kann man mit Detailstudien, die ihren jeweiligen zeitlichen und soziokulturellen Hintergründen besser gerecht werden können, nicht mehr erreichen als mit einem "Rundumschlag"? Dabei hat Uekötter mehrfach bewiesen, dass er nicht nur den Überblick, sondern auch das Metier der "case study" souverän beherrscht. [2]

Bei einem Essay verbietet es sich eigentlich, an Schwerpunktsetzungen oder Auslassungen herumzukritisieren. Das sind Entscheidungen, die jeder Autor subjektiv trifft. Jedoch erschließt sich dem Zeithistoriker nicht so recht, warum bei den exemplifizierten Themen ein zeitlicher Abstand von 50 Jahren eingehalten wurde und das, obwohl im Text immer wieder aktuelle Bezüge hergestellt werden. Angesichts der dynamischen und sich überstürzenden globalen Entwicklungen auf allen Erdteilen ist diese Entscheidung angreifbar. So wären Ausführungen zur Computerisierung, Digitalisierung und Globalisierung von so einem kenntnisreichen und abwägenden Auto wie Uekötter spannend gewesen.

Das weltweite Problem der atomaren Abfälle erwähnt Uekötter im Atomkapitel als ungelöstes Problem, ohne ausführlicher darauf einzugehen. Auch hier hätte man sich wie bei manchen Auslassungen Einschätzungen gewünscht: Außerdem bei den weltweiten Diskussionen um den Baustoff Asbest oder den Sprengstoff TNT. Die kurz vor der Drucklegung aufkommende globale Herausforderung der Corona-Pandemie, die Uekötter im Schluss und im historiographischen Nachwort eingeflochten hat, verdeutlicht einmal mehr, wie Menschen in vielen Ländern und Kontinenten unabhängig voneinander auf einmal mit einer neuen Umweltherausforderung konfrontiert werden und Bewältigungsstrategien entwickeln. Hier ist es in der Tat noch zu früh, um zu analysieren, wie die Menschen damit umgehen, aber auch welche Parallelen und Unterschiede zu beobachten sind.

Zusammenfassend erfährt die Leser*in dieser globalen Umweltgeschichte vieles darüber, wie sich der moderne Mensch insbesondere in den letzten 200 Jahren seine Umwelt formte, welche Probleme er damit kurz-, mittel- und langfristig schuf und wie an verschiedenen Orten damit umgegangen wurde. Er lernt die maßgeblichen Akteure, die Hintergründe und die Reaktionen auf die Umweltprobleme kennen. Jedoch werden hieraus keine Schlüsse gezogen, so dass die Leser*in letztlich mit den Einzelergebnissen alleine gelassen wird, ohne sie eingeordnet zu bekommen. Wer sich jedoch von diesem Anspruch auf eine Deutung verabschiedet und sich auf die Wege durch das Buch einlässt, bekommt auf assoziative, essayistische und spannende Art die Augen für viele neue Bezüge und Querverbindungen geöffnet.


Anmerkungen:

[1] Joachim Radkau: Natur und Macht, Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, John R. Mc Neill: Something new under the Sun. An Environmental History of the Twentieth Century, London 2000. Dazu die Rezension von Bernhard Löffler: www.sehepunkte.de/2002/10/1495.html.

[2] Jüngst beispielsweise Frank Uekötter: Der Deutsche Kanal, Eine Mythologie der alten Bundesrepublik, Stuttgart 2020.

Anselm Tiggemann