Frank Uekötter: Der Deutsche Kanal. Eine Mythologie der alten Bundesrepublik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 330 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12603-8, EUR 29,00
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Frank Uekötter, Dozent für Umweltwissenschaften am Department für Geschichte der Universität Birmingham, ist durch zahlreiche Arbeiten, darunter auch seine beiden Bielefelder Qualifikationsschriften, auf dem Felde der Umweltgeschichte ausgewiesen. In dem hier vorzustellenden Buch beschäftigt er sich mit einem wenig bekannten Großprojekt der frühen Bundesrepublik, dem Elbe-Seitenkanal. Maßgebliche Quellengrundlage der Analyse sind die einschlägige Aktenbestände einer beeindruckend großen Zahl von Archiven: Die Staatsarchive Hamburg und Bremen, das Niedersächsische Landesarchiv Stade bzw. Hannover, das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen in Münster, das Bundesarchiv Koblenz, das Bundesarchiv Freiburg und das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, ferner das Archiv des Liberalismus in Gummersbach und das Stadtarchiv bzw. Kreisarchiv in Lüneburg. Die Studie gliedert sich in einen Prolog ("Die Kunst der organisierten Verantwortungslosigkeit") und neun Kapitel, in denen das Thema überwiegend chronologisch, aber auch akteursorientiert behandelt wird. Dem schließen sich noch zwei Essays, "Was ist eigentlich ein Skandal?" und "Historiographisches Nachwort: Vom Sinn und Nutzen der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert", an sowie eine Chronologie des Elbe-Seitenkanals.
Dessen Bau dauerte von den ersten Planungen 1950 bis zur Vollendung 1976 26 Jahre, aber der Kanal erwies sich letztlich als "eine milliardenschwere Fehlinvestition, er war trotz zahlreicher Warnungen gebaut worden, und er verursachte fünf Wochen nach der Eröffnung eine Katastrophe, die nur mit viel Glück keine Menschenleben forderte." (234f.) Gemeint ist damit der Dammbruch vom 18. Juli 1976. Das bemerkenswerte an diesem "Debakel" ist, dass es sich hier, so Uekötter, um "eine Form regelkonformen Versagens" gehandelt habe, es sei von den Verantwortlichen nicht gegen Gesetze und Verordnungen verstoßen worden, das ganze Unternehmen sei nicht medientauglich und den zivilgesellschaftlichen Verbänden "ziemlich egal" gewesen. (246f.) Überhaupt Verantwortung: Uekötter arbeitet heraus, dass es ihm nicht möglich war, anhand der Quellen klare Verantwortlichkeiten aufzuzeigen, da diese "im jahrelangen Kampf in höchst aufschlussreicher Weise diffundierten. [...] Eine Vielzahl von Körperschaften und noch mehr Einzelpersonen haben ihre jeweils eigenen Beiträge geleistet, die sich am Ende zu einer grandiosen Fehlinvestition aufaddierten" (263) Insofern verwundert es auch nicht, dass der Dammbruch für keinen der Beteiligten juristische Folgen hatte. Uekötter spricht zuspitzend von einem "Fall organisierter Verantwortungslosigkeit" (247). Treibende Kraft für den Bau des Elbe-Seitenkanals war die SPD-regierte Freie und Hansestadt Hamburg, die Anschluss suchte an das binnendeutsche Kanalsystem und dies im Rahmen des kooperativen Föderalismus auch durchzusetzen verstand, obwohl bereits in den 1950er Jahren absehbar war, dass die optimistischen gutachterlichen Prognosen hinsichtlich des erreichbaren Transportvolumens fragwürdig waren.
Hans-Christoph Seebohm (DP, dann CDU), Bundesverkehrsminister von 1949 bis 1966 und damit der am längsten ununterbrochen amtierende Minister in der Geschichte der Bundesrepublik, der heute allenfalls noch für seine vertriebenenpolitischen "Sonntagsreden" als Repräsentant der Sudetendeutschen Landsmannschaft bekannt ist, war von dem Kanalprojekt selbst nicht überzeugt, stellte sich diesem aber dennoch nicht in den Weg. Die abenteuerlichsten Argumente wurden von den Beteiligten für den Bau ins Feld geführt, wobei Uekötter zeigen kann, dass die konkrete Motivation für die Unterstützung durchaus unterschiedlich war: So begrüßte etwa die Peine-Salzgitter AG auf der einen Seite den Bau des Kanals als unverzichtbaren Beitrag für ihre Firmenlogistik, auf der anderen Seite nutzte der Konzern das Projekt als Druckmittel in Verhandlungen mit der Deutschen Bundesbahn, um so günstigere Frachttarife durchzusetzen (156ff.). Dass beide Unternehmen Staatsbetriebe waren, setzt dieser schlitzohrigen Taktik des Salzgitter-Konzerns noch die Krone auf. Dass die Kosten des Kanalprojekts von ursprünglich prognostizierten 225 Millionen DM schließlich auf 1,5 Milliarden DM stiegen, verwundert dann schon gar nicht mehr.
Zutreffend verweist Uekötter darauf, dass die "Verantwortungslosigkeit gesichtsloser Expertensysteme [...] ein Grundproblem moderner Industriegesellschaften" (15) sei, die kommunistischen Ostblickstaaten waren da nicht besser als die westlichen marktwirtschaftlichen Demokratien, wie etwa das Beispiel des seit 1949 von Zwangsarbeitern errichteten Donau-Schwarzmeer-Kanals in Rumänien zeigt, der 1984 fertig wurde und nur 10% der erwarteten Auslastung erreichte (234). Dennoch sieht Uekötter in der Geschichte des Baus des Elbe-Seitenkanals ein "Lehrstück über Politik und Verwaltung im Nachkriegsdeutschland" (11). Es geht ihm bei seiner Analyse darum - deshalb auch der Untertitel "Eine Mythologie der alten Bundesrepublik" - "populäre Narrative der bundesdeutschen Zeitgeschichte" (252) in Frage zu stellen. Konkret problematisiert wird die Vorstellung von einem "Erfolgsmodell Bundesrepublik" bzw. die nostalgische Erinnerung an die Bonner Republik. Uekötter postuliert nämlich, dass die Verfahrensregeln, die den Bau des Elbe-Seitenkanals in dieser Form möglich machten, eben kein Betriebsunfall gewesen seien, sondern hier tiefer liegende Grundprobleme der alten Bundesrepublik deutlich würden. Diese Regeln seien durch mythische Überformung gegen Kritik immunisiert worden (vgl. 251ff). Polemisch zugespitzt formuliert Uekötter: "Die geglückte Demokratie" - eine Anspielung auf das bekannte Buch von Edgar Wolfrum - "wirkt da eher wie eine Bananenrepublik." (252).
Letztlich zielt Uekötter aber auf die bundesdeutsche Gegenwart, wenn er beklagt, Verantwortung im Alltag der bundesdeutschen Politik diffundiere in einem Umfang, "den eine Demokratie nicht leicht verträgt, und mit kritischer Selbstbeachtung und Kurskorrekturen tut sich die bundesdeutsche Politik notorisch schwer." (254f.) Wer denkt da nicht an den Berliner Hauptstadtflughafen, Stuttgart 21 oder die Elbphilharmonie, um nur drei Bauprojekte zu nennen? Aber man könnte natürlich ebenso verweisen auf Probleme der deutschen Migrations-, Verteidigungs- und Außenpolitik, bei denen es den politisch Verantwortlichen in ähnlicher Weise schwerfällt, problemorientiert überkommene tiefsitzende Überzeugungen, Handlungslogiken und Routinen hinter sich zu lassen. Man täte Uekötter Unrecht, würde man seinen kritischen Ansatz als quasi wissenschaftspopulistischen Rundumschlag deuten, auch wenn einige Polemiken in seinen beiden abschließenden Essays dazu förmlich einladen. Eine besondere Stärke des Buches ist vor allem, dass Uekötter vor dem Erfahrungshintergrund seiner Wahlheimat Großbritannien argumentiert. Er spricht diesbezüglich dezidiert von den "Ruinen eines politischen Systems" (254) - auch eine dieser immer wieder von ihm verwendeten bildhaften Zuspitzungen im Text, die bisweilen befremden, das Lektüreerlebnis aber auch bereichern. Uekötter weiß natürlich um die Tatsache, dass der Politikbetrieb der alten Bundesrepublik eine Reaktion auf die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus war, die Nüchternheit und Verlässlichkeit zu unerlässlichen Regierungstugenden aufwertete und einem gleichsam "wagnerianischen" Politikstil mit charismatischen, den großen Auftritt pflegenden Führungspersönlichkeiten, die demokratisch legitimierte Kontrolle überlagerten, die Grundlage entzog. Seebohm war möglicherweise wirklich einer der letzten Mohikaner dieser Politiker-Spezies, die den "maskuline[n] Gestus des Platzhirschs" (245) pflegten. Ein Geflecht von Routinen und Expertenmeinungen trat zunehmend an die Stelle solcher überkommener Handlungsstile.
Bemerkenswert ist dieser Befund Uekötters insofern, als er zeigt, dass die heute allenthalben beklagte Gesichtslosigkeit politischer Entscheidungen bzw. die Farblosigkeit politisch Handelnder keineswegs nur die Konsequenz des Siegeszugs der Social-Media-Kommunikation bzw. der daraus resultierenden Shit-Storm-Kultur sind, sondern dass die Ursachen für diese Entwicklung offenbar tiefer liegen. Wie dies zusammengeht mit, um nur zwei Beispiele zu nennen, bundesdeutschen Vollblutpolitikern wie Franz Josef Strauß oder Machern wie Helmut Schmidt, in denen zweifellos die "Platzhirsch"-Tradition fortlebte, wäre sicherlich ein fruchtbringendes Forschungsthema. Ein Erklärungsansatz könnte sein, dass bürokratische Handlungslogiken zunehmend auch auf dem genuin (partei-)politischen Feld Platz griffen und so den überkommenen Habitus des charismatischen Berufspolitikers grundlegend veränderten. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass Uekötter ein sehr lesenswertes Buch vorgelegt hat, das über das engere Thema hinaus zur engagierten Diskussion einlädt.
Matthias Stickler