Frank Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 524 S., ISBN 978-3-525-31705-1, EUR 49,90
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Die Geschichte der Landwirtschaft hat erfreulicherweise wieder Konjunktur, war dieses Feld doch lange Zeit aus der Mode gekommen. In der letzten Zeit sind jedoch einige Arbeiten zur neuesten Geschichte der Landwirtschaft erschienen, die diesem Feld neue Impulse zu geben versprechen. Frank Uekötters Bielefelder Habilitationsschrift über die Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft im 20. Jahrhundert reiht sich in diese Bemühungen ein. Mehr noch: sie stellt das äußert ehrgeizige und umfassende Projekt dar, einen neuen Blick auf die Landwirtschaftsgeschichte insgesamt zu werfen, und das für einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren!
Uekötter beginnt zunächst mit einigen konzeptionellen Überlegungen, wie eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft zu schreiben sei. Bei seiner Diskussion der Schlagworte "Wissensgesellschaft" und "Verwissenschaftlichung" wird allerdings relativ schnell klar, dass er den Wissensbegriff stark eingegrenzt. Mit "Wissen" meint Uekötter vor allem das agrartechnische Wissen, etwa über die Techniken der Bodenbearbeitung und -bewirtschaftung, Maschinisierung oder Viehzucht. Er grenzt das Thema weiter ein, indem er sich vor allem auf den "Boden" konzentriert, also auf Techniken der Bodenbearbeitung, Düngung etc. Das ist gut nachvollziehbar, war dieser Bereich doch von enormer Relevanz für den agrarischen Wandel im 20. Jahrhundert, der ja bekanntermaßen ein dramatischer gewesen ist.
Im folgenden Abschnitt beschreibt Uekötter zunächst die Institutionen der agrarischen Wissensproduktion und -vermittlung: Institute, Zeitschriften usw. Desweiteren werden hier in der Einleitung angerissene Thesen ausführlicher formuliert und begründet, insbesondere die Überlegung zum Zusammenhang zwischen generationellem Wandel und den Veränderungen des agrarischen Wissenssystems. Auf diese Weise rechtfertigt der Autor seine Periodisierung, die mit dem Kaiserreich, der Zwischenkriegszeit, der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis 1980 und der anschließenden ökologischen Wende jeweils Abschnitte von ca. 30 Jahren umfasst. Dies begründet der Autor mit den Rhythmen der Hofübergabe, was weniger überzeugend ist als sein Hinweis auf politische Zäsuren, insbesondere den Einfluss der beiden Weltkriege.
Im folgenden Abschnitt arbeitet Uekötter heraus, dass sich das agrarische Wissen im Kaiserreich vor allem am Ideal des "ganzen Landwirts" orientiert habe, der gewissermaßen organischen Kombination von Ackerbau und Viehzucht. Im Gegensatz zum später vorherrschenden spezialisierten Landwirt, der auf die Ausnutzung von Skaleneffekten setzte, wurde damals viel stärker die Gemischtwirtschaft propagiert, die nicht zuletzt den Vorteil betrieblicher Synergieeffekte hatte. Dabei orientiert sich der Autor in seiner Begriffsbildung, allerdings in kritischer Distanz, an Otto Brunners Konzept des "Ganzen Hauses". Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass damit die faktischen Verhältnisse in der deutschen Landwirtschaft nur teilweise zutreffend beschrieben werden.
Die anschließende Zwischenkriegszeit wird von Uekötter als Sattelzeit des agrartechnischen Fortschritts bezeichnet. Auch wenn, besonders im Vergleich zu der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Entwicklung noch vergleichsweise gemächlich verlief, konnte die Agrikulturchemie bereits einen wesentlichen Durchbruch erzielen. Auch setzte sich immer mehr die Dominanz betriebsfremder Expertise gegenüber dem hergebrachten Wissen der Landwirte durch. Eingeschoben ist anschließend ein Abschnitt, in dem sich der Autor von der Konzentration auf den Boden und seine Düngung löst und die Maschinisierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert nachzeichnet, nicht zuletzt den Übergang von einer eher technikfeindlichen Haltung hin zu einer Technikeuphorie bei den Landwirten seit den 1960er Jahren. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass es sich lohnte, die Ausreifung von Innovationen abzuwarten. Viele Bauern beispielsweise, die sich bereits in den 1920er Jahren einen Traktor zulegten, taten sich damit aufgrund der geringen Zuverlässigkeit dieser Vehikel keinen Gefallen.
Sicherlich am kontroversesten geraten ist dann das folgende Kapitel über die "stille Revolution" in der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, die so still ja eigentlich gar nicht war. Hier finden sich starke Wertungen: Die chemiebasierte Intensivlandwirtschaft, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, bewertet Uekötter nicht nur aus ökologischer Perspektive als desaströs, sie war seiner Meinung nach auch keineswegs wissensbasiert. Sie funktionierte viel stärker nach dem Motto, möglichst viel Chemie auf den Acker auszubringen, ohne über die Folgen nachzudenken oder Alternativen in Erwägung zu ziehen. Ohne die "Fehlertoleranz" europäischer Böden hätte diese Form der Bewirtschaftung bereits viel früher zu einer ökologischen Katastrophe geführt. Die partielle Abwendung von der Intensivlandwirtschaft ohne Rücksicht auf ökologische Verluste seit den 1980er Jahren wird dann im letzten Abschnitt behandelt, wobei sich Uekötter nicht zuletzt mit den Gründen auseinandersetzt, warum ökologische Forderungen in der Landwirtschaft - anders als in anderen Bereichen - so mühsam und erst verspätet durchgesetzt werden konnten.
Die große Frage, die sich nach der Lektüre der Studie stellt, ist die, wie der agrarische Wandel im 20. Jahrhundert erklärt werden kann. Die Stärke des Buches besteht dabei darin, dass es die Geschichte der agrarischen Wissensentwicklung kenntnisreich und materialgesättigt nachzeichnet, damit diesen Bereich für die historische Forschung erschließt und zahlreiche neue Erkenntnisse zu Tage fördert. Wichtig ist zudem, dass sich der Autor von dem in der Agrargeschichte noch immer anzutreffenden Fortschrittsparadigma löst und die Entwicklung des agrarischen Wissens als eine voller Brüche und Widersprüche beschreibt. Deswegen ist es auch nur konsequent, wenn der Autor die Wissensrevolution in der Landwirtschaft nicht als "Verwissenschaftlichung" fassen möchte. Manch provozierende These wird der Agrargeschichte darüber hinaus sicherlich neue Impulse geben.
Die Schwäche der Arbeit hingegen besteht darin, dass die Entwicklung des Wissens und der ökonomische Wandel der Landwirtschaft eigenartig unverbunden erscheinen. Das liegt ganz wesentlich an dem engen Verständnis Uekötters von agrarischem Wissen: Er rechnet das ökonomische Kalkül des Landwirts ganz offensichtlich nicht zu seinen Wissensbeständen. Die betriebswirtschaftliche Beratung nach dem Zweiten Weltkrieg etwa, diesen Anschein erweckt der Autor an manchen Stellen, scheint mitunter den diametralen Gegensatz zu agrarischem Wissen sui generis zu repräsentieren. Gerade die Auffassung der Landwirte von der ökonomischen Betriebsführung ist jedoch relevant hinsichtlich der Frage, welche Techniken und welches Wissen tatsächlich zur Anwendung kamen.
Diese Blindstelle in Uekötters Arbeit zeigt sich beispielsweise in seinem Rekurs auf das Konzept des "Ganzen Hauses". Außen vor bleibt, dass dahinter nicht zuletzt eine bestimmte ökonomische Rationalität stand, welche den langfristigen Erhalt des Hofes vor die kurzfristige Gewinnmaximierung setzte. Hier wären einige Ausführungen dazu angebracht gewesen, ob das Ideal des "Ganzen Landwirts" eine möglichst risikoarme oder möglichst effektive Form der Betriebsführung beinhaltete - und ob sich dieses Ideal nicht gerade aus einem spezifischen ökonomischen Kalkül speiste.
Noch deutlicher zeigt sich dieses Problem im Abschnitt über die Entwicklung nach 1945. Bei Uekötters scharfen Wertungen bleibt die Frage nach den Alternativen zur Intensivlandwirtschaft auf der Strecke. Natürlich konnte man sich auch weiterhin am Ideal des "ganzen Landwirts" orientieren, aber wie lange gab es den Bauernhof dann noch? Wenn die Preisentwicklung auf den Agrarmärkten, bessere Verdienstmöglichkeiten in anderen Branchen, nicht zu vergessen die zunehmende Integration der europäischen Agrarmärkte die Handlungsspielräume für die Betriebe verengten, bleibt die Kritik dann nicht abstrakt? Anders gefragt: Gab es eine wirtschaftliche Alternative zur chemieintensiven Ausnutzung von Skalenerträgen angesichts eines Agrarsektors auf dem Rückzug? Unbenommen, dass dabei mit ökologisch desaströsen Folgen massiv übertrieben wurde. In der Einleitung wird eine Argumentation gegen den ökonomischen Determinismus versprochen, eine befriedigende Antwort auf diese Fragen bleibt der Autor dann jedoch schuldig.
Die Beschreibung der Wissensentwicklung insgesamt bleibt somit - so lautet der Hauptkritikpunkt - letztlich in der Darstellung des Geflechts von Institutionen der Wissensproduktion, der Wissensvermittlung und ihrer Rezipienten stecken. Das ist schade, weil man die wirtschaftliche Entwicklung des Agrarsektors und die Entwicklung des agrartechnischen Wissens sehr gut miteinander in Beziehung hätte setzen können; viele Werturteile hätten dann allerdings deutlich milder ausfallen müssen. Indem Uekötter besonders für die Zeit nach 1945 jedoch eine scharfe Frontstellung konstruiert, wird deutlich, dass sein Begriff des agrarischen Wissens nicht nur (zu) eng, sondern im Hinblick auf Nachhaltigkeit und ökologische Verträglichkeit des Ackerbaus auch stark normativ ist. Das erstaunt bei einem Autor, der wie wenige andere gegen die Normativität der Umweltgeschichte angeschrieben hat.
Diese Einwände sollen die Verdienste von Uekötters Studie nicht schmälern, der mit seiner Arbeit die Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts ein bedeutendes Stück vorangebracht hat. Sie wird in Zukunft sicherlich zu einem Referenzwerk werden. Hinsichtlich der Frage nach den Faktoren, welche den agrarischen Wandel im 20. Jahrhundert bedingten, ist das letzte Wort jedoch noch nicht gesprochen.
Roman Köster