Rezension über:

Gavriel D. Rosenfeld: Das Vierte Reich. Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Aus dem Englischen von Claudia Kotte, Darmstadt: wbg Theiss 2020, 448 S., 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4115-0, EUR 34,00
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Rezension von:
Thomas Riegler
Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christian Packheiser im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Riegler: Rezension von: Gavriel D. Rosenfeld: Das Vierte Reich. Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Aus dem Englischen von Claudia Kotte, Darmstadt: wbg Theiss 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/34558.html


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Gavriel D. Rosenfeld: Das Vierte Reich

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Mit seiner neuesten Studie liefert der US-amerikanische Historiker Gavriel D. Rosenfeld eine erste umfassende Begriffsgeschichte des "Vierten Reichs". Eben diese Metapher drückt die Furcht vor einem Wiederaufleben des Nationalsozialismus im politischen Diskurs und in der Populärkultur aus. Und trotzdem gab es dazu bislang, wie der Autor feststellt, "wenig systematische Forschung", dafür seit Jahrzehnten umso mehr "schlagzeilenträchtige Meldungen" (13). Meist, so Rosenfeld, wurde das "Vierte Reich" dazu verwendet, "um eine aktuelle oder zukünftige Realität - sei sie demokratisch oder totalitär - an verschiedenen Orten zu beschreiben" (15 f.).

Wie der Autor darlegt, geht die Idee vom "Vierten Reich" ursprünglich auf das Buch des Propheten Daniel zurück. Erst zu Beginn der 1930er Jahre sei daraus ein säkularer Begriff geworden, der zunächst vom antinazistischen Widerstand verwendet wurde, um ein zukünftiges, alternatives Deutschland zu beschreiben. Von daher wurde der Gebrauch vom NS-Regime zunächst unterdrückt. Erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs setzten die Nationalsozialisten das Schlagwort als "Propagandawaffe" ein, um Ängste vor angeblichen Racheplänen der Alliierten zu schüren (60). Auf deren Seite wiederum bündelten Vorstellungen vom "Vierten Reich" die düstere Aussicht auf eine mögliche Rückkehr eines besiegten NS-Regimes.

In den ersten Besatzungsjahren war dies laut Autor eine durchaus "reale Angst" (82). Diese speiste sich aus einer Reihe von nationalsozialistischen Bedrohungen: Dazu zählen die Angriffe von Werwolf-Partisanen (1945-1947) und die sogenannte "Hitlerjugend-Verschwörung", die 1946 von den alliierten Besatzungsmächten zerschlagen wurde, ebenso wie im Jahr 1947 die Untergrundgruppe "Deutsche Revolution". Angesichts solcher "anhaltender Bemühungen unbeirrter Nazis", die Besatzung zu sabotieren, stellt Rosenfeld überhaupt die Frage, wie verwundbar diese zunächst war (130). Auch die populäre Annahme, die Bundesrepublik Deutschland wäre spätestens seit den 1950er Jahren "nie in Gefahr" gewesen "von einem Vierten Reich abgelöst zu werden" (133), relativiert Rosenfeld mit dem Hinweis auf den Aufstieg und Fall der Sozialistischen Reichspartei sowie der Naumann-Affäre. Die Alliierten hätten noch Anfang der 1950er Jahre mehrmals intervenieren müssen. Ohne dieses Eingreifen wäre das Land "in einer heikleren Situation" gewesen (189). Dafür, dass nach 1955 die Furcht vor einem "Vierten Reich" nachgelassen und sich die Bundesrepublik letztlich stabilisiert hat, sei die durch Konrad Adenauer vorangetragene soziale und politische Integration ehemaliger Nationalsozialisten mitverantwortlich, so zwiespältig diese auch gewesen war. Die Demokratisierung, die im historischen Rückblick oft "unvermeidlich" erscheint, sei tatsächlich "zu keinem Zeitpunkt" eine Selbstverständlichkeit gewesen. Für Rosenfeld wäre die deutsche Nachkriegsgeschichte ohne die Angst vor dem "Vierten Reich" möglicherweise gar "nicht so erfolgreich verlaufen, wie sie es tat" (343).

Spätestens in den 1960er Jahren begann sich die Idee vom "Vierten Reich" vom ursprünglichen Bezugsobjekt zu lösen, und sie wurde zu einem "universellen Bedeutungsträger für das Böse" (28). Wirkungsmacht erlangte die Vorstellung einerseits als politischer Kampfbegriff, mit dem etwa in den USA Sorgen über die Ermordung John F. Kennedys, den Vietnamkrieg oder den Watergate-Skandal zugespitzt wurden. Anderseits führte die Verallgemeinerung zu einer zunehmenden Fiktionalisierung und politischen Entleerung. Vor allem in den 1970er Jahren adaptierte die Populärkultur unter Rückgriff auf die NS-Zeit untote Nazischurken, dunkle Verschwörungen und Horrorgeschichten für ansonsten konventionelle Unterhaltungsstoffe. Diese Entwicklung setzte sich noch bis in die 1980er Jahre fort, ehe sich der Trend kommerziell erschöpfte.

Die deutsche Wiedervereinigung bedingte dann kurzfristig ein Wiederaufleben alter Ängste, auch wegen neonazistischer Umtriebe. Nun ist seit der Finanzkrise von 2008 ein Erstarken der Idee vom "Vierten Reich" zu beobachten, konstatiert Rosenfeld, denn Deutschland werde teils als hegemoniale Macht innerhalb der Europäischen Union wahrgenommen. Andererseits haben neue rechtspopulistische Bewegungen wie Reichsbürger und Pegida Symbole mit Bezug zum "Vierten Reich" aktiv in ihre Propaganda übernommen. Auch die Präsidentschaft Donald Trumps sowie das generelle Erstarken der extremen Rechten haben dafür gesorgt, dass das "Vierte Reich" erneut in die politische Debatte Eingang gefunden hat - auch wenn Rosenfeld Anzeichen dafür sieht, "dass es seine Zweckmäßigkeit überlebt haben könnte" (346). Bislang, so sein Fazit, hat sich das "Vierte Reich" jedenfalls "auf das Reich der Mythen statt auf das Reich der Realität beschränkt" (345).

Zusammengefasst liefert Rosenfelds Studie die erste systematische ideengeschichtliche Aufarbeitung der Vorstellung eines "Vierten Reichs". Das ist ihr zweifellos als Verdienst anzurechnen, wobei es sich primär um eine Diskursanalyse handelt. Es wäre darüber hinaus reizvoll gewesen, die subversive Tätigkeit von flüchtigen Kriegsverbrechern und überzeugten NS-Anhängern stärker zu beleuchten. Rosenfeld streift die "Nazidiaspora" nur kurz, dabei hat es hier beispielsweise in Lateinamerika eine enge Vernetzung mit Militärdiktaturen und dem internationalen Waffenhandel gegeben. Einige dieser Bestrebungen - etwa die Tätigkeit von Klaus Barbie für die bolivianische Militärdiktatur - sollen sogar auf etwas Ähnliches wie ein "Viertes Reich" in den Anden hinausgelaufen sein. [1] Abgesehen davon, schließt "Das Vierte Reich" eine Leerstelle, sowohl in der Betrachtung der Nachkriegszeit als auch des populärkulturellen Echos auf die Zeit des Nationalsozialismus. Vor allem aber entfaltet das Buch eine hohe Aktualität.


Anmerkung:

[1] Magnus Linklater / Isabel Hilton / Neal Ascherson: The Fourth Reich: Klaus Barbie and the Neo-fascist Connection, London u. a. 1984.

Thomas Riegler