Dirk Stegmann: Lüneburg 1918 - 1945. Stadtgesellschaft zwischen Kaiserreich, Republik und Diktatur (= Beiträge aus dem Museum Lüneburg; 5), Lüneburg: Museum Lüneburg 2020, 574 S., ISBN 978-3-946481-05-8, EUR 34,90
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Lüneburg ist heute eine der dynamischsten Mittelstädte Deutschlands. Die Bevölkerungszahl wächst rasch, Auswärtige fühlen sich je nach Gusto von der Leuphana-Universität oder von der Kulisse der ARD-Telenovela "Rote Rosen" angezogen. Ganz anders als vor etwa 100 Jahren: Von der mittelalterlichen Bedeutung der Salzstadt war nichts geblieben. Wirtschaftlich und demographisch stagnierte die Stadt. Weiterhin galt Heinrich Heines Verdikt, Lüneburg sei "die Residenz der Langeweile". Kann eine Darstellung der Stadtgeschichte für die Jahre 1918 bis 1945 mehr bieten, als eine lokalhistorische Lücke zu schließen?
Dirk Stegmann, vor seinem Ruhestand Geschichtsprofessor an der Universität Lüneburg und deren Vorläufer, der Pädagogischen Hochschule, hat im Auftrag der Hansestadt in jahrelanger akribischer Arbeit fast alles zusammengetragen, was die Archive zum Thema hergaben. Etwa zwei Drittel des Werkes sind den Jahren von 1918 bis 1933 gewidmet, der kleinere Teil "Lüneburg im 'Dritten Reich' 1933 - 1945". Im Vorwort kündigt Stegmann an, das Buch solle eine Sozialgeschichte der Stadt sein, in der er nach dem Vorbild von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte versuche, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur "miteinander zu verzahnen". (13) Wie der Autor selbst einschränkt und seine Ausführungen immer wieder bestätigen, steht dem großen Vorhaben eine ungünstige Quellenlage entgegen. Auf vielen Seiten und insbesondere im zweiten Teil bleibt es bei der Beschreibung des Handelns einzelner Personen und der Schilderung isolierter Ereignisse.
Die detailreiche Darstellung ergibt das Bild einer Stadt, in der die Weimarer Demokratie bis 1930 einen außergewöhnlich guten Stand hatte, gemessen an den Erwartungen an eine protestantische Mittelstadt Norddeutschlands inmitten einer Region, die früh eine NSDAP-Hochburg war. Von einer Demokratie ohne Demokraten kann hier keine Rede sein. Lüneburg war zwar kein ausgesprochener Industrieort - aber auch nicht eine Stadt der Beamten, wie immer wieder geschrieben wird. Im März 1919 errang die SPD die absolute Mehrheit im Stadtparlament. Die bisher dort überhaupt nicht vertretene Partei musste nun in das kalte Wasser springen und ohne große Vorkenntnisse Kommunalpolitik betreiben. Ihr Schwerpunkt wurde - wie in anderen deutschen Städten - der Wohnungsbau. 1924 ging die Mehrheit der SPD zwar verloren. Aber Ende der 1920er Jahre war der Regierungspräsident mit Sitz in der Stadt Sozialdemokrat, der Oberbürgermeister gehörte zum republiktreuen Teil der DVP wie auch der Landgerichtspräsident (der sogar dem Republikanischen Richterbund beitrat), der ehemals monarchistische Landrat stand nun fest auf dem Boden der Verfassung, der Chefredakteur der größten Tageszeitung besaß das Parteibuch der DDP, ebenso der Direktor des örtlichen Gymnasiums, den Vorsitzenden des bedeutendsten und einstmals rein bürgerlichen Sportvereins kannte man als Sozialdemokraten. Der Befund für die Spitzenebene wird von den Wahlergebnissen bestätigt. Bei den Reichstagswahlen fuhr die SPD in der Hansestadt stets deutlich bessere Ergebnisse als im nationalen Durchschnitt ein (zwischen 7 und 9 Prozentpunkten mehr), während die KPD nur leicht (etwa 2 Punkte) darunterblieb. Im Rat der Stadt besaßen SPD und KPD seit 1929 eine rechnerische Mehrheit gegenüber den bürgerlichen Parteien, bei denen DDP und DVP ausweislich der Wahlergebnisse durchgängig mehr Zuspruch als auf nationaler Ebene erhielten, die örtliche DNVP hingegen lag erst im November 1932 über den Zahlen im Reich. Das Lüneburger Bürgertum neigte somit viele Jahre überwiegend zur Weimarer Republik. Die NSDAP blieb bis zum Juli 1932 unter den Reichsergebnissen und war bis dahin vor Ort ein zerstrittener Haufen mit für sie beschämend, aus Sicht der Demokraten erfreulich niedrigen Mitgliederzahlen.
Im Laufe des Jahres 1932 aber brach die bürgerliche Mitte zusammen. Zur Reichspräsidentenwahl im März/April hatte es noch einen von zahlreichen Notabeln der Stadt unterzeichneten Aufruf gegeben, der unter der Überschrift "Über Hitler zum Kommunismus!" zur Bestätigung des Amtsinhabers Paul von Hindenburg aufrief. Im zweiten Wahlgang lag dieser mit fast 55 Prozent weit vor Hitlers 34 Prozent (im Buch sind hier leider die Zahlen vertauscht, Hitlers Anteil steht bei Hindenburg und umgekehrt, 338). In den folgenden Monaten aber schwenkten immer mehr Verbände zur NSDAP. Treibende Kraft waren jeweils die Jugendorganisationen bzw. jüngeren Mitglieder. Für die Welfen, den Landbund, den Stahlhelm und weitere Organisationen konstatierte schon im Frühjahr 1931 eine Landrätekonferenz in Hannover: "Überall ist es die Jugend, die in schärfster Weise radikalisiert ist und den älteren Gruppen innerhalb derselben Bewegung vielfach über den Kopf gewachsen ist." (286)
Die Machtübernahme durch die NSDAP brachte in Lüneburg weniger Gewaltexzesse mit sich als in anderen Orten, aber willkürliche Verhaftungen gab es auch hier. Der prominenteste Lüneburger Sozialdemokrat, Senator Johannes Lopau, nahm sich im Mai 1933 aus Verzweiflung über die politische Entwicklung das Leben. Sein Begräbnis wurde zur letzten Demonstration der Arbeiterbewegung bis zur kampflosen Befreiung der Stadt durch britische Truppen am 18. April 1945. Schritt für Schritt verdrängte nun die örtliche NSDAP-Führung unter Gauleiter Otto Telschow auch die konservativen Kräfte aus immer mehr Ämtern. 1935 musste auch der Oberbürgermeister, der 1932 den Aufruf gegen Hitler unterschrieben hatte, sein Amt aufgeben.
Am Ende des Buches schildert der Autor den Weg wichtiger NS-Täter und auch ihrer Gegner aus den Reihen von KPD und SPD in der Nachkriegszeit. Einmal mehr zeigt sich, dass die FDP in Niedersachsen bis in die 1960er Jahre Züge einer NSDAP-Nachfolgeorganisation trug. Man gewinnt den Eindruck, dass in Lüneburg überzeugte (Alt-)Nazis in den 1950er Jahren respektierter dastanden als 1931.
Das, was der Rezensent hier als Quintessenz der Studie zusammenfasst, muss die Leserin, der Leser des Werkes aus einer Fülle einzelner Berichte herausfiltern. Auf eine eigene Synthese hat der Autor weitgehend verzichtet. So gibt es auch kein resümierendes Schlusskapitel. Das ist bedauerlich, denn die vorhandenen Quellen haben das Potenzial, im Vergleich mit der Reichsebene und mit der Entwicklung in ähnlich strukturierten Städten zu überprüfen, ob die in Lüneburg relativ starke Akzeptanz der Weimarer Demokratie tatsächlich ungewöhnlich war. Da dies unterblieb, bleibt es - um auf die Eingangsfrage zurückzukommen - dabei, dass eine Lücke in der Lüneburger Geschichtsschreibung geschlossen wurde, aber ohne darüberhinausgehenden Erkenntnisgewinn.
Ein weiteres Manko des Buches ist das unzureichende Lektorat. Die Gliederung des Stoffes ist nicht wirklich gelungen und führt zu zahlreichen Wiederholungen oder Andeutungen, die erst Seiten später aufgeklärt werden. Die Zahl der Tippfehler übersteigt das nie zu vermeidende Maß. Eines der Opfer ist Karl August Wittfogel (im Buch Wittvogel), der in Lüneburg das Gymnasium besucht hatte, 1919 vor Ort die USPD aufbaute und später ein weltweit respektierter Sinologe wurde.
Bernd Rother