Vadim Oswalt / Hans-Jürgen Pandel (Hgg.): Handbuch Geschichtskultur im Unterricht (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 630 S., ISBN 978-3-7344-1085-7, EUR 49,90
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Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider / Bernd Schönemann (Hgg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 4. Auflage, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022
Vadim Oswalt / Jens Aspelmeier / Suzelle Boguth: Ich dachte, jetzt brennt gleich die Luft. Transnationale historische Projektarbeit zwischen interkultureller Begegnung und Web 2.0, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014
Vadim Oswalt: Weltkarten - Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte, Stuttgart: Reclam 2015
Handbücher zur Geschichtskultur haben Konjunktur. [1] Als Rezensent des vorläufig letzten Handbuches am Markt tut man sich schwer, Leseerfahrungen aus den anderen Varianten auszublenden. Es war durchaus viel zu erwarten von dem knapp über 600 Seiten starken Buch, das Vadim Oswalt und Hans-Jürgen Pandel nun vorgelegt haben, war doch ihr erstes Bändchen zu dem Thema aus dem Jahr 2009 durchaus ein innovativer Schachzug, um das Thema noch sichtbarer in den geschichtsdidaktischen Diskussionen zu verankern. [2] Dem neuen Handbuch gelingt dies aber bestenfalls mäßig. Offenbar hat seine Herstellung - schenkt man den Angaben eines Autors in einer Fußnote Glauben - 14 Jahre gedauert (36). Das Feld hat sich in dieser Zeit in vieler Hinsicht verändert, neue Themen wurden aufgebracht und andere eher zurückgedrängt. Einige Autor*innen kamen nicht hinterher, die neuere Literatur einzubauen, führen Debatten und erheben Vorwürfe, die seit Jahren überholt sind. [3] Die empirische Forschung zur Rezeption der Geschichtskultur hat sich inzwischen ausdifferenziert und die theoretisch-normativen Betrachtungen einzelner Manifestationen der Geschichtskultur ergänzt. Dies ignoriert Hans-Jürgen Pandel in seinem theoretisch-konzeptionellen Einführungsbeitrag leider. Er führt keine einzige Untersuchung aus der deutschsprachigen geschichtsdidaktischen Forschung an, die seit einiger Zeit mitnichten als "unterentwickelt" (27) bezeichnet werden kann. [4] Wenngleich Pandel sicherlich vieles gut zuspitzt, wie etwa die Notwendigkeit des Aufbaus eines differenzierten Begriffsbestecks für die Analyse von Geschichtskultur, oder seine Gedanken zur historischen Bildung als kultureller Bildung durchaus inspirieren können, so verengt er doch an einigen Stellen stark: etwa dort, wo er ohne empirische Belege behauptet, dass die angebotene Geschichte im Alltag der Menschen immer aus den Geschichtswissenschaften abgeleitet sei (22 f). Auch wenn er zu Recht soziologische Betrachtungen als zentral einfordert, so überzeugen seine kulturpessimistischen und aus einem "Niveaumilieu" heraus auf andere Gruppen in der Gesellschaft gerichtete Perspektiven wenig. Durchgängig hat es den Anschein, dass nahezu niemand die von ihm selbst gesteckten Erwartungen im Umgang mit Geschichte erfüllt. Es drängt sich damit die Frage auf, ob im Alltag nicht doch eine ganz eigene Form des Umgangs mit Geschichte vorherrscht, die herkömmliche Theorien bislang nicht angemessen wahrnehmen.
Pandels Beitrag zum Band ist aber ein mehrfacher. Neben der Einführung steuert er auch einen Beitrag zum Roman und zum Theater bei, wobei man feststellen kann, dass diese beiden Teilaspekte gerade für den Geschichtsunterricht eher auf dem Rückzug sind. Ihre Positionierung kann daher als positiver Impuls gelesen werden, um sich erneut damit zu beschäftigen, wirft aber gleichzeitig Fragen auf, inwieweit eine Geschichtsdidaktik, die heute stärker aus der Lebenswelt Lernende argumentiert, vieles einfach nicht mehr zur Kenntnis nimmt, aber vielleicht zur Kenntnis nehmen sollte. Dennoch hat es in Summe eher den Anschein, dass damit hochkulturelle Facetten fokussiert werden, während die unmittelbaren Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen und die darin verankerten digitalen Medien mit ihren unzähligen Möglichkeiten im Sammelband ins Abseits geraten. Der Beitrag der Historikerin Angela Schwarz am Handbuchende wirkt daher in seiner Isolation etwas ungünstig, und es überrascht wenig, dass sie keinen prononciert geschichtsdidaktischen Blick auf den Einsatz von Computerspielen im Geschichtsunterricht wirft. [5]
Das Handbuch gliedert sich neben einer Einführung in vier Abschnitte (Geschichte im öffentlichen Raum, Geschichtspolitik, Literarische Verarbeitung, Fiktionale Dramatisierung). So findet man Beiträge zu Spielfilmen (Torsten Schmidt), Dokumentationen (Hans Utz), TV-Serien (Sonja Schoel), Comics (Christine Grundermann) und Jugendromanen (Monika Rox-Helmer), aber auch zu Denkmalpflege (Gerhardt Henke-Bockschatz), Museen und Ausstellungen (Thorsten Heese), Kunst (Sebastian Pilz/Mathias Renz), Rhetorik (Christian K. Tischner) und Living History (Stefanie Nagel).
Einige in den Beiträgen angesprochene Themen sind, was ihre Darstellungsweise angeht, so nicht mehr in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und hätten eine neue Auslegung oder aktuellere Beispiele benötigt, wie etwa der Beitrag zum Denkmalkonflikt von Dietmar von Reeken, der angesichts der nicht berücksichtigten neueren postkolonialen Debatten im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung neuere Perspektiven ungenutzt lässt, was dem Autor angesichts der Produktionszeiten des Bandes durchaus bewusst ist. Im Kern bleiben bei von Reeken so zwar viele systematische Überlegungen genauso erhalten, doch die Leselust sinkt angesichts der nicht erkennbaren Aktualität.
Auch wenn im Rahmen einer Rezension nicht alle Beiträge besprochen werden können, so drängen sich bei der Lektüre dennoch einige in den Vordergrund. Dazu zählt die erneute Betrachtung zu Holocaust-Komödien von Vadim Oswalt, in der er seine Ausführungen aus dem Jahr 2009 aufgreift und stärker für den Unterricht wendet [6], oder auch Markus Bernhardts Beitrag, der ebenfalls seine älteren Betrachtungen zu "Holocaustleugnung oder Geschichte als Straftatbestand" erweitert, sie stärker kategorial erschließt und Hinweise für den Geschichtsunterricht gibt. [7] Auch der Beitrag von Saskia Handro zu Geschichtsjubiläen ist hier zu erwähnen. Er besticht durch seine Einbettung in den geschichtswissenschaftlichen bzw. geschichtsdidaktischen Kontext und die dabei entwickelten systematischen Achsen, entlang derer diese Ausprägungen von Geschichtskultur zu denken sind. Sie versteht ihren Systematisierungsversuch nicht als Ende der Debatte, man sollte ihn aber als zentrale Anlaufstelle für derartige Fragen verstehen - ein Aufsatz, den man in den nächsten Jahren nicht übergehen sollte.
Der abschließende Beitrag des Bandes von Vadim Oswalt, eine zusammenführende Synthese am Ende des Handbuches, darf ebenso auf keinen Fall übergangen werden. Er bietet einen Einblick in die vielfältigen Herausforderungen einer "Geschichtskultur im Geschichtsunterricht", indem er theoretisch ordnet, curriculare Herausforderungen benennt und gute Hinweise für die Methodik bereithält.
Gemessen am Erscheinungsdatum ist das Handbuch in manchen Aspekten eher aus der Zeit gefallen oder kommt ihr in vielen Bereichen nicht mehr hinterher. Denn während das Buchprojekt 2009 sicherlich höchst vorausschauend begonnen haben muss, bremste irgendetwas die zügige Realisierung; offenbar haben auch einige Autor*innen ihre Mitarbeit zurückgezogen (10). Als Leser*in würde man sich wünschen, noch weit mehr zu kontroversen Debatten über die Geschichtskultur im deutschsprachigen Raum zu erfahren und zu den zahlreichen internationalen Diskursen und Zugängen. [8] Das Handbuch hält aber dennoch Ansatzpunkte bereit, um von einer breiten Lektüre zu verschiedenen Bereichen der Geschichtskultur, die im Unterricht berücksichtigt werden könnten, inspiriert zu werden. Es ist der Versuch, ein theoretisches Fundament zu bilden, auf dessen Grundlage eine Methodik für den Geschichtsunterricht freilich erst zu entwickeln ist.
Anmerkungen:
[1] Felix Hinz / Andreas Körber (Hgg.): Geschichtskultur - Public History - Angewandte Geschichte, Göttingen 2020; Mario Carretero / Stefan Berger / Maria Grever (eds.): Palgrave Handbook of Research in Historical Culture and Education, London 2017.
[2] Vgl. Christian Schmidtmann: Rezension zu: Vadim Oswalt / Hans-Jürgen Pandel: (Hgg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach am Taunus 2009, in: H-Soz-Kult, 25.11.2009, verfügbar unter www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11711.
[3] So wird Rüsen 2021 vorgeworfen, er nehme die ethische Dimension der Geschichtskultur nicht wahr (18). Dies ist so jedoch unrichtig, da Rüsen vor geraumer Zeit eine Aktualisierung vornahm: Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013, 238 ff. Seltsam auch seine abweichende Meinung, die den Autor aber nach wie vor umtreiben dürfte, nämlich, ob es in der Vergangenheit eine Geschichtskultur gegeben habe, wo doch "Geschichte" als explizites Konzept nicht existierte (18). War also auch Europa geschichtslos?
[4] Vgl. Daniel Giere: Computerspiele - Medienbildung - historisches Lernen. Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen, Frankfurt/Main 2019; Britta Wehen: Macht das (historischen) Sinn? Narrative Strukturen von Schülern vor und nach der De-Konstruktion eines geschichtlichen Spielfilm, Berlin 2018; Christiane Bertram: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht: Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie, Schwalbach/Ts. 2017; Christian Winklhöfer: Schülervorstellungen über die Präsentation von Geschichte im Museum. Eine empirische Studie zum historischen Lernen im Museum, Berlin 2016; Christoph Kühberger (Hg.): Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel "Spielfilm", Innsbruck / Wien 2013.
[5] Pragmatische Herangehensweisen an digital präsentierte Geschichte finden sich etwa bei: Daniel Bernsen / Ulf Kerber (Hgg.): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Opladen 2017.
[6] Vadim Oswalt: Komödien zum Thema "Drittes Reich" als geschichtskulturelles Phänomen und Lernanlass, in: Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, hgg. von Vadim Oswalt/ Hans-Jürgen Pandel, Schwalbach/Ts. 2009, 127-138.
[7] Markus Bernhardt: Holocaustleugnung und Strafrecht als erinnerungskulturelles Phänomen, in: Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, hgg. von Vadim Oswalt / Hans-Jürgen Pandel, Schwalbach/Ts. 2009, 139-152.
[8] Holger Thünemann: Geschichtskultur revisited. Versuch einer Bilanz nach drei Jahrzehnten, in: Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag, hgg. von Thomas Sandkühler / Horst Walter Blanke, Frankfurt a. Main 2018, 127-149.
Christoph Kühberger