Marc Junge: Stalinistische Modernisierung. Die Strafverfolgung von Akteuren des Staatsterrors in der Ukraine 1939-1941 (= Histoire; Bd. 168), Bielefeld: transcript 2020, 376 S., ISBN 978-3-8376-5014-3 , EUR 39,99
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Der Autor ist ein profunder Kenner der umfangreichen Aktenbestände des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD) der UdSSR, insbesondere der in Kiew zugänglichen Akten im Behördenarchiv des Sicherheitsdienstes der Ukraine. In den vorangegangenen Untersuchungen standen normative Dokumente (Befehle, Instruktionen, Anweisungen und andere amtliche Schriftstücke) übergeordneter Ebenen an die ausführenden Organe des NKVD auf Republik- und Gebietsebene sowie Berichte über deren Ausführung und Verhörprotokolle im Mittelpunkt des Interesses. Darauf folgten Ego-Dokumente der zu Sündenböcken bestimmten, in der Vergangenheit besonders eifrigen Befehlsvollstrecker [1].
In der hier zu besprechenden Publikation ging der Autor zwei Fragen nach: dem Agieren der NKVD-Verwaltung in dem Gebiet Nikolaev bei einem bedeutenden Störfall in einem Rüstungsbetrieb und der Strafverfolgung von dessen Angehörigen für Dienstvergehen, die nach dem Ende des Großen Terrors (Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der VKP(B) vom 17. November 1938) als Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit bezeichnet wurden.
Der Auslöser für die von Marc Junge geschilderten Ereignisse war ein Großbrand am 2. August 1938 in einem der bedeutendsten Rüstungsbetriebe, der Schiffbauwerft Nr. 200 in Nikolaev an der Schwarzmeerküste. Da für Sicherheitsfragen landesweit die Sicherheitspolizei NKVD zuständig war und jegliche Pannen, Qualitätsmängel in der Produktion und das Nicht-Erreichen der Planvorgaben auf Sabotage und Diversionen diverser "Volksfeinde" zurückgeführt wurden, war die Gebietsleitung des NKVD von Nikolaev für die Aufklärung des Ereignisses und das rasche "Enttarnen" der Schuldigen zuständig. Sie befand sich unter besonderem Druck, weil der NKVD-Chef der Ukrainischen SSR, A. Uspenskij, in seiner Direktive vom 21. Februar 1938 die NKVD-Gebietsleitungen aufgefordert hatte, alle Rüstungsbetriebe von Spionen, Diversanten und Personen, welche feindliche Tätigkeit ausübten, zu "säubern".
Da die NKVD-Gebietsleitungen nach Einschätzung Uspenskijs und der Moskauer Zentrale dabei zu zögerlich vorgingen, entsandte Uspenskij seine Untergebenen aus Kiew Mitte Juli 1938 in die Industriezentren Zaporož'e, Dnepropetrovsk, Doneck und Nikolaev zwecks Unterstützung der dortigen NKVD-Leitungen. Am 17. Juli 1938 forderte der Erste Stellvertreter des NKVD-Chefs der UdSSR, M. Frinovskij, per Telegramm dazu auf, auch auf den Werften von Nikolaev Verhaftungen vorzunehmen. Diese Unterstützung führte zur Verhaftung von mehreren hundert Verdächtigen in jedem der genannten Gebiete. Kaum, dass diese Massenverhaftungen stattfanden, ereignete sich der Großbrand auf der Werft.
Gestützt auf Verhörprotokolle aus der Zeit nach dem Großen Terror und anderes amtliches Material zeichnet Junge das hektische Agieren der örtlich zuständigen NKVD-Mitarbeiter sowohl bei der Bekämpfung des Brandes als auch bei der "Beweissicherung" gegen Leitungskader der Werft nach. Gewaltanwendung bei Verhören, Fälschung der Verhörprotokolle, gefälschte Aussagen von Zuträgern waren gängige Methoden der tschekistischen Arbeit, die in den Jahren 1937-1938 sowohl allgegenwärtig als auch weithin bekannt war. Junge macht daraus eine spannende Lektüre mit Einblicken in den Gemütszustand handelnder Personen und deren Interaktionen. Dem besseren Verständnis dienen auch die Charakterisierung des Geheimdienstes des Gebiets Nikolaev und die kurzen Biografien der handelnden Personen. Dass die Täter ohne Ausnahme regimetreue Stalinisten waren und ihre Verurteilung trotz Regimekontinuität (245) nach der von der Moskauer Partei- und Regierungsspitze verfügten Abschwächung des Terrors, nicht dessen Einstellung, erfolgte, prägte die Verteidigungsstrategie der in Ungnade gefallenen Tschekisten. Sie stellten weder die Rechtmäßigkeit der empfangenen Befehle noch ihre eigene Rolle bei deren Umsetzung in Frage. Das Eingeständnis vereinzelter, nicht systematischer Fehler bei gleichzeitiger Betonung ihrer Treue zur bolschewistischen Partei und dem Sowjetregime sollte strafmildernd wirken.
Im Sinne der Täterforschung hat Junge "die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Täter" dargelegt und "versucht, als Fakten dargestellte Informationen, Aussagen und Selbstwahrnehmungen als Fakten anzusehen und selten zu bezweifeln", um die "Darstellung der inneren Logik der Welt der Täter und um ihre Argumentationsstrategien und darum, ihre Verankerung in der Gesellschaft nachzuzeichnen" (183-184). Er weist auch darauf hin, dass sich die verwendeten und verfügbaren Dokumente der sowjetischen Strafverfolgung der NKVD-Kader in vielfacher Hinsicht von der Täterforschung zum Nationalsozialismus unterscheidet. Während sich letztere "unter dem von außen kommendem Druck der Alliierten erst nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus" entwickelt hat, fand die sowjetische Strafverfolgung "unter den Bedingungen der Regime- und weitgehender Personalkontinuität" statt (268-269). Sie habe der stalinistischen Modernisierung gedient, da mit der Kampagne gegen das NKVD und die Miliz die Macht der bolschewistischen Partei wiederhergestellt worden sei (247).
Zur Untermauerung dieser These verweist Junge auf Studien deutscher und internationaler Forscher. Ob Stalin die Kontrolle über die Sicherheitsorgane während des "Großen Terrors" entglitten war, wird indes von ihm infrage gestellt. Stalin habe während des "Großen Terrors" Schwerpunkte gesetzt, indem er sich in erster Linie auf die Eliten konzentriert habe. "An ihrer Verfolgung war er nicht nur mit seiner Unterschrift unter Verhaftungs- und Verurteilungslisten beteiligt" (260). Bei den Massenoperationen habe sich Stalin auf die allgemeine Kontrolle beschränkt. Sowohl in seinen vorangegangenen Studien als auch in der vorliegenden hat Junge Stalins Telegramm vom 10. Januar 1939 erwähnt, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das ZK der VKP(B), deren Generalsekretär Stalin war, die "physische Einwirkung" gegenüber Volksfeinden zugelassen hat (220). Diese drei Feststellungen sprechen eher gegen die These, dass Stalin die Kontrolle über die Sicherheitskräfte entglitten war.
In bisherigen Studien zu den Repressionen nach den nationalen Linien wurde die im Befehl des NKVD der UdSSR Nr. 00439 zur "Deutschen Operation" in Punkt 4 enthaltene Aufforderung übersehen: "Das bislang noch nicht entlarvte Agentennetz des reichsdeutschen Nachrichtendienstes ist vollständig aufzudecken und das von diesem in den Industriebetrieben aufgebaute Sabotageumfeld endgültig zu zerschlagen" [2]. Diese Kontakte (russisch: nizovka) bildeten in der Folge das Gros der Repressierten wegen 'deutscher Spionage'. Darunter waren Ukrainer, Russen, Juden, Polen usw. Damit erklärt sich, wieso nach nationalen Linien - bei anderen wurde es vergleichbar gehandhabt - Angehörige anderer Volksgruppen unterdrückt wurden.
Ungenaue Übersetzungen wie Gouvernement Volynsk (114) statt Gouvernement Volyn' oder Wolhynien, vorübergehender stellvertretender Volkskommissar (109) anstatt kommissarischer Stellvertreter und außerordentliche Bezeichnung "Hauptmann der Staatssicherheit" (109) statt Sonderdienstgrad haben keine Auswirkung auf die hervorragende Analyse der Selbstwahrnehmung der handelnden Personen und deren Agieren. Zu wünschen bleibt die Fortsetzung der Erforschung des Sicherheitsapparats der Stalin'schen UdSSR und dessen Breiten- und Langzeitwirkung, zumal Junge eine breite Palette von Fragen formuliert hat (267-272).
Anmerkungen:
[1] Čekisty na skam'e podsudimych. Sbornik statej, hgg. von Mark Junge / Linn Viola / Džeffri Rossman, Moskau 2017; Ėcho bol'šogo terrora. Sbornik dokumentov v trech tomach. T. 1. Partijnye sobranija i operativnye soveščanija sotrudnikov Upravlenij NKVD USSR (nojabr' 1938 - nojabr' 1939 gg.), hgg. von Valerij Vasil'ev / Linn Viola / Roman Podkur, Moskau 2017; Ėcho bol'šogo terrora. T. 2. Dokumenty iz archivnych ugolovnych del na sotrudnikov organov NKVD USSR, osuždennych za narušenija socialističeskoj zakonnosti (oktjabr' 1938 g. - ijun' 1943 gg.), hgg. von Sergej Kokin / Džeffri Rossman, Moskau 2018; Ėcho bol'šogo terrora. T. 3. Čekisty Stalina v tiskach "socialističeskoj zakonnosti". Ėgo-dokumenty 1938-1941 gg., hgg. von Andrej Savin / Aleksej Tepljakov / Mark Junge, Moskau 2018.
[2] Der "Große Terror" in der Ukraine. Die "deutsche Operation" 1937 - 1938, hg. von Alfred Eisfeld u.a., Berlin / Boston 2021, 241.
Alfred Eisfeld