Rezension über:

Tanja Penter / Stefan Schneider (Hgg.): Olgas Tagebuch (1941-1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 431 S., ISBN 978-3-412-52182-0 , EUR 32,00
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Rezension von:
Bert Hoppe
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Bert Hoppe: Rezension von: Tanja Penter / Stefan Schneider (Hgg.): Olgas Tagebuch (1941-1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38664.html


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Tanja Penter / Stefan Schneider (Hgg.): Olgas Tagebuch (1941-1944)

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Mit Beginn der Großinvasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Forschung zu den von den Deutschen besetzten sowjetischen Gebieten im Zweiten Weltkrieg eine neue Dimension bekommen. Mit den großangelegten Offensiven, Panzergefechten, Grabenkämpfen und schweren Bombardements begegnet uns ein Krieg, den es in dieser Form, diesem Ausmaß und dieser Reichweite in Europa seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Das gilt auch für die aktuelle russische Besatzung im Osten und Süden der Ukraine, die trotz aller gravierenden Unterschiede zu der der Deutschen und ihrer Verbündeten bis 1943/44 zwangsläufig vor diesem Hintergrund wahrgenommen wird. Nicht nur, weil die russischen Invasoren ihre Gewalt an den gleichen Orten ausüben und mit "Filtrationslagern" auf Methoden der sowjetischen Gegenspionage der 1940er Jahre zurückgreifen. Sondern vor allem, weil die russische Führung ihren Angriffskrieg explizit als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs, als Kampf gegen ein "faschistisches Regime" darstellt.

Was vielen noch vor zwei Jahren als immer weiter von uns fortrückende Epoche galt, von der immer weniger Zeitzeugen noch aus eigenem Erleben berichten können, scheint somit wieder nah an uns herangerückt zu sein. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Publikation eines ungewöhnlichen Tagebuchs eine besondere Bedeutung, das eine junge Ukrainerin zwischen 1941 und 1944 unter deutscher Besatzung und in den Wochen nach der Rückkehr der Sowjetmacht verfasst hat - zeigt es doch eine Perspektive auf die damaligen Ereignisse, die in vielem quer zu den vorherrschenden Bildern vom Zweiten Weltkrieg stehen. Olga Krawzowa, die beim Einmarsch der Wehrmacht in ihren Heimatort, dem Eisenbahnknotenpunkt Snamjanka (russ.: Snamenka), 17 Jahre alt war, schilderte darin fast täglich ihre Beobachtungen vor allem ihres privaten Umfeldes und reflektierte ausführlich über ihre Rolle in der sich dramatisch umwälzenden Gesellschaft. Bis zum Sommer 1941 war sie Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands (Komsomol) und Schülerin der zehnten Klasse des örtlichen Gymnasiums, und aufgrund ihrer gute Deutschkenntnisse vollzog sie dann einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg: Nach der Schließung des Gymnasiums wurde sie zunächst selbst Lehrerin an einer Mittelschule und arbeitete anschließend als Übersetzerin bei der Reichsbahn, zuletzt in der Eisenbahndirektion.

Wie janusköpfig dieser soziale Aufstieg war, verdeutlicht die Herausgeberin Tanja Penter in ihrer ausführlichen Einleitung, in der sie nicht nur über die Probleme und das Potenzial von Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Stalinismus als Quelle für die Forschung schreibt, sondern auch den lokalen und überregionalen Kontext darlegt, in dem Olga sich bewegte. Dazu gehört neben den spezifischen Bedingungen in Snamjanka als einem "Ort transkultureller Verflechtung" (23) vor allem der Komplex der unterschiedlichen "Kriegsbeziehungen" (42) von ukrainischen Frauen mit deutschen Besatzern zwischen tatsächlicher Zuneigung und sexueller Gewalt sowie die deutsche Besatzungs- also meist: Ausbeutungspolitik in der Sowjetukraine; deren Menschen wurden seit 1942 verstärkt zum Arbeitseinsatz ins Reich deportiert. "Schura ist zu ihrem Vorgesetzten, aber sie haben sie mitgenommen und zur Kommission gebracht", schrieb Olga am 21. Juni 1943 über eine Freundin, "sie muss nach Deutschland. Auf den Straßen werden die Menschen ständig angehalten und nach ihren Personaldokumenten gefragt" (331). Mit ihrer Anstellung bei der deutschen Reichsbahn sicherte Olga nicht allein die Versorgung ihrer Familie, sie hoffte auch, auf dieser Weise der Verschleppung zu entgehen.

In einer zweiten, mit 61 Seiten ebenfalls sehr umfassenden Einleitung geht der Übersetzer Stefan Schneider insbesondere auf die sprachlichen Besonderheiten ein, die der Originaltext etwa mit seinen einzelnen deutschen Ausdrücken und in der Übertragung unsichtbar bleibenden ukrainischen Einflüssen bietet. Das ist vor dem Hintergrund der politisierten Sprachenfrage interessant, im Einzelnen für ein geschichtswissenschaftliches Buch aber deutlich zu kleinteilig.

Interessanter ist daher die inhaltliche Analyse des Textes, zu der Tanja Penter in ihrer Einleitung wichtige Anregungen gibt und die verdeutlichen, weshalb es sich lohnt, sich gerade mit diesem Text auseinanderzusetzen: Er zeigt eine ungewöhnliche Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg. Ungewöhnlich erscheint das Tagebuch unter anderem deshalb, weil die deutschen Besatzungsverbrechen darin im Wortsinn lediglich als Randnotizen auftauchen. Zwar beschrieb die Autorin im Herbst 1941 voller Mitgefühl die grausame Behandlung halbverhungerter sowjetischer Kriegsgefangener, doch als sie im März 1943 zwei gehängte Partisanen an einer Hauptstraße von Snamjanka sah, notierte sie nur kurz, der Anblick habe bei ihr "nicht so einen großen Eindruck hinterlassen. Ich bin so unsensibel bei solchen Gefühlen!" Gleich im Anschluss ging sie auf den Abend ein, den sie mit drei Freunden und den dort einquartierten jungen Wehrmachtsangehörigen verbracht hat, an dem sie gemeinsam Grammophonplatten gehört haben (279). In Olgas Aufzeichnungen dominieren ihr ganz persönlicher Alltag, insbesondere der Kontakt zu den zahlreichen deutschen Soldaten und Eisenbahnern, ihre Flirts und Gespräche über Kinofilme, Romane und Theateraufführungen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Bemerkung eines Meisters aus einem Industriebetrieb in Kiew plausibel, der im Februar 1944 nach der Befreiung klagte, dass sich 80 Prozent der jungen Leute "den Deutschen an den Hals geworfen" hätten [1].

Es gelte "auszuhalten, was sie schreibt", bemerkt Stefan Schneider dazu in der Schlussbemerkung seiner Einleitung; man erfahre von Olga "wenig von dem, was wir gewohnt sind zu erfahren", wenn es um den Zweiten Weltkrieg gehe, wenig über Täter und Opfer, und zwinge uns nachzudenken über "den aus der Not geborenen Konformismus und Opportunismus" (150). Wobei letzteres in ihrem Fall nur bedingt zutrifft. Zu den verblüffendsten Aspekten dieser Aufzeichnungen gehört die Offenheit, mit der Olga zunächst den deutschen Soldaten erklärte, natürlich würden "die Russen" den Krieg gewinnen (unter anderem Eintrag vom 28.12.1941, 187) und nach Rückkehr der Roten Armee ihre Unzufriedenheit mit der wiederhergestellten sowjetischen Ordnung bekundete. Diese machte sie nun vor allem an den ihrer Meinung nach im Vergleich zu den Deutschen "primitiven Umgangsformen" der Rotarmisten fest. "Wir haben im Ausland gelebt!", bekundete sie am 14. Januar 1944. "Mir tut es kein bisschen leid, dass ich eine Zeit unter den Deutschen leben musste. Man muss auch von dem Feind lernen, wenn dieser klug ist" (407). Diese Offenheit ist Olga möglicherweise zum Verhängnis geworden: Knapp drei Wochen, nachdem sie Anfang Februar 1944 im Vorbeigehen aus einer Gruppe hörte, da gehe die Frau, "die gibt ihre Schuld nicht einmal zu" (416), bricht ihr Tagebuch unvermittelt ab. Vermutlich, so Herausgeberin Penter, ist sie als Kollaborateurin vom NKVD oder der sowjetischen Gegenspionage "Smersh" verhaftet worden; ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.


Anmerkung:

[1] Zentrales Staatsarchiv der öffentlichen Verbände der Ukraine, 166/3/44, Bl. 5-7, Stenogramm eines Gesprächs zwischen einem Mitarbeiter der Kommission für die Erstellung einer Chronik des Großen Vaterländischen Krieges und dem Meister der Gießereiwerkstatt der "Lenin-Schmiede" Kiew, 22.2.1944.

Bert Hoppe