Andrée Türpe: Der vernachlässigte General? Das Clausewitz-Bild in der DDR, Berlin: Ch. Links Verlag 2020, 319 S., ISBN 978-3-96289-105-3, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gary P. Baker / Craig G. Lambert / David Simpkin (eds.): Military Communities in Late Medieval England. Essays in Honour of Andrew Ayton, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2018
Robert L. Nelson: German Soldier Newspapers of the First World War, Cambridge: Cambridge University Press 2011
Patrick Leukel: "all welt wil auf sein wider Burgundi". Das Reichsheer im Neusser Krieg 1474/75, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019
Jeffrey Rop: Greek Military Service in the Ancient Near East, 401-330 BCE, Cambridge: Cambridge University Press 2019
Florian Reichenberger: Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Gäbe es in Deutschland noch Militärwissenschaften, wäre das vorgelegte Buch zum Clausewitz-Bild in der DDR ein gewichtiger Beitrag dazu. Da man aber 1990 den Begriff der Militärwissenschaft mit der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft zu Grabe getragen hat und in der Bundesrepublik Deutschland keine solche Disziplin existiert, lässt sich das Buch eher in das Feld der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte der DDR einordnen. Dass Andrée Türpe chronologisch das gesamte Clausewitz-Erbe der DDR-Militärwissenschaften beschreibt, ist ein Vorzug, aber auch eine Herausforderung in seiner detaillierten Darstellung einer Spezialdisziplin.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwanden im Rahmen einer umfassenden Demilitarisierung auch die kriegsphilosophischen Werke von Carl von Clausewitz aus Bibliotheken und Forschungsvorhaben im Nachkriegsdeutschland. Auf dem Gebiet der späteren DDR kamen zur Entnazifizierung der Bibliotheken auch neue ideologische Vorgaben. Ein Beispiel dafür war die "Leipziger Liste" zwischen 1946 und 1953 mit 18 indizierten Clausewitz-Schriften. In der sowjetischen Besatzungszone galt der Artikel "Stalin über Clausewitz", erschienen im "Neuen Deutschland" am 9. Mai 1947, als Meilenstein - freilich verbunden mit einer deutlichen Deklassierung. Eine sowjetische Kontroverse unter Militärwissenschaftlern zur Clausewitz-Rezeption Lenins war durch den Abdruck der Lehrmeinung Stalins zu einem vorläufigen Abschluss gebracht worden. Dies gab für die Beschäftigung mit dem Thema in der DDR die Richtung vor: "Was Clausewitz im Besonderen betrifft, so ist er natürlich als militärische Autorität veraltet. Clausewitz war schließlich ein Vertreter der Manufakturperiode des Krieges. Wir aber leben jetzt in der mechanisierten Periode des Krieges. Zweifellos braucht die mechanisierte Periode neue militärische Ideologen. Es wäre lächerlich, jetzt bei Clausewitz in die Lehre zu gehen" (34).
Schon Ende 1952 konnte die NDPD eine Tagung über die "Lehren aus dem nationalen Befreiungskampf 1806-1813" veranstalten und den deutsch-russischen Kampf gegen Napoleon sogar als Blaupause für den Kalten Krieg verwenden. Aber erst nach dem Tod Stalins, der Entstalinisierung und der neuen ideologischen Positionierung der Schriften Lenins veränderte sich die offizielle Sicht auf Clausewitz. Vorsichtiges Zeichen dafür wurde ein Artikel des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Walter Ulbricht, zum 140. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1953. Als Durchbruch galt 1957 die Herausgabe von Lenins Auszügen und Randglossen zu Clausewitz' Werk "Vom Kriege" durch den Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR. Im selben Jahr erschien Ernst Engelbergs Studie "Carl von Clausewitz in seiner Zeit" als Werkeinführung, die quasi bis zum Ende der DDR als die offizielle und zugleich geschichtswissenschaftliche Sichtweise gelten konnte. Dafür sorgten national und international auch andere Historiker der DDR, wie Heinz Heitzer.
Fast schon symptomatisch für die gesamtdeutsche Beschäftigung war allerdings, dass das Interesse an Clausewitz und seinem Werk mehr und mehr eine Sache von runden Jubiläen oder Gedenktagen wurde. Ein ehrliches und kontinuierliches Interesse wollte sich offenbar nicht einstellen. Aber wenn es um die Zeit der Befreiungskriege, die "traditionelle" deutsch-russische Waffenbrüderschaft oder die Völkerschlacht bei Leipzig ging, wurde auch Clausewitz als Mann des "Volkskrieges" regelmäßig zum Thema. Ein trauriger Beweis für die selektive Erinnerung war auch, dass es 1969 in Burg nicht gelang, das Geburtshaus von Clausewitz zu erhalten.
Die Umbettung der sterblichen Überreste von Clausewitz und seiner Ehefrau aus Wrocław nach Burg 1971 stellten einen Wendepunkt dar. Der neue Gedenkort und die Gedenkstätte schienen dem Personenkult im Sozialismus zu entsprechen. Mitte der 1970er Jahre setzte sich mit der "zweiten Clausewitz-Renaissance" die Nutzung von dessen Schriften im Zeichen des Kalten Krieges durch, die vom Verteidigungsminister der DDR ausging. In diesem Zusammenhang analysiert Türpe die Erkenntnisse seiner Dissertation aus dem Jahr 1977 und die im Anschluss daran von ihm und Barbara Rothe angestoßene erweiterte Betrachtung der Kriegsphilosophie von Clausewitz unter Einbeziehung der Philosophie Hegels.
Mit dem Kapitel "Clausewitz-Hype 1980/81" beschreibt Türpe den Höhepunkt der Clausewitz-Verehrung in der DDR. Nicht nur der 200. Geburtstag und der 150. Todestag des Generals, sondern auch die Preußen-Renaissance in der Bundesrepublik und der DDR der 1980er Jahre hatten dazu beitragen. Eine Sonderausstellung des Armeemuseums der DDR konnte sogar den Ort des Potsdamer Museums im Marmorpalais historisch bemühen, an dem Marie von Clausewitz das Vorwort zu "Vom Kriege" verfasst hatte. Medaillen, Briefmarken, Ganzsachen, Presseartikel sowie eine Dokumentation des DDR-Fernsehens erschienen, um Clausewitz im Kreis der preußischen Reformer und an der Seite Russlands als "großen Patrioten und genialen Denker" (162) zu ehren. Und wieder wurde die Stadt Burg zum Schauplatz einer Großveranstaltung zum 1. Juni 1980. Wie stets bewegten sich Gedenkreden zwischen den Eckpunkten "Patriot und Waffenbruder, Kämpfer für den Fortschritt sowie genialer Militärtheoretiker" (166). Alles in allem zeigte sich, dass die DDR die offizielle Erinnerung an Clausewitz auch im Vergleich zur Bundesrepublik völlig für sich vereinnahmt hatte.
Nach einem Abschnitt zu wissenschaftlichen Konferenzen, Tagungen und Publikationen widmet sich der Autor der "Ausdifferenzierung des Clausewitz-Bildes bis zum Untergang der DDR". Türpe konnte sich 1986 mit einer Dissertation (B) über die Theorie von Clausewitz habilitieren. Teile der Arbeit werden im Text wiedergegeben (221-246), wobei unter anderem der Abschnitt zur Dialektik von Angriff und Verteidigung demonstriert, wie zeitlos und anregend die Gedanken von Clausewitz waren und sind. Die Schilderung der Debatten zum Diktum vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zeigen anschließend noch einmal Positionen über "Neues Denken" und Militärdoktrin in der DDR auf. Im Schatten der friedlichen Revolution wanderte die Clausewitz-Forschung dabei offenbar sogar in das Lager der Friedensforschung. In kurzen Exkursen widmet sich Türpe noch der Frage, ob und wie Clausewitz in der NVA beachtet wurde.
Dieses Buch ist keine leichte Lektüre, wenn auch die Abschnitte zur Umbettung, den Gedenkfeiern und zur bekannten These über Krieg und Politik ein breiteres Interesse verdient haben. Türpe wertete für seine Arbeit leider keine Akten, aber dafür Unmengen von anderem Schriftgut, Literatur und persönlichen Quellen aus. Auch die DDR-Forschung nach 1990 wird sich keineswegs ausreichend reflektiert sehen. Es ist aber nicht nur der Zeitzeugenbericht eines Fachmanns. Für diejenigen, die sich mit dem Werk von Clausewitz aus Sicht der DDR-Forschung und ihrer Protagonisten aus erster Hand vertraut machen wollen, ist die Arbeit mehr als ein wertvoller Steinbruch. Für die Wissenschaftsgeschichte der DDR ist Türpes Arbeit ein außerordentlich großer Gewinn, auch wenn es zuweilen seltsam anmutet, wie er seitenlang, selbstbewusst und offenbar mit sich im Reinen über sich selbst schreibt. Dem Ch. Links Verlag ist sehr zu danken, dass er dem Autor den breiten Raum gab, den dieses schwierige und zudem (militär-)philosophische Thema verdient hat.
Heiner Bröckermann