Tim Geiger / Michael Ploetz / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, 2 Bde., CVIII + 1992 S., ISBN 978-3-11-071505-7, EUR 154,95
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Die deutsche Aktenedition zur Auswärtigen Politik läuft seit 1993 wie eine gut geölte Produktionsmaschine. Dies ist der 37. Band, der pünktlich 30 Jahre nach dem Geschichtszeitraum erscheint. Der Grundgedanke: nach der üblichen Archivsperrfrist kann sich die einschlägige Forschung danach erstmals auf eine repräsentative Auswahl der Orginaldokumente stützen. Doch das ist für das Jahr der deutschen Vereinigung anders. Bereits 1998 erschien eine Edition "Deutsche Einheit" mit den Akten des Kanzleramtes auf 1667 Seiten. So erfreulich dieser frühe Zugang für die Forschung war, so merkwürdig war die Verlagswerbung: "Der Kanzler gibt die Akten frei" - es handelte sich damals um den Langzeitkanzler Helmut Kohl. Doch nicht nur das: dem Band stand auf mehr als 200 Seiten eine im Präsens geschriebene und stark psychologisierende Einleitung des Bearbeiters voran, tatsächlich eine erste Interpretation der weltpolitischen Vorgänge unter besonderer Berücksichtigung eben des Kanzlers. Das Auswärtige Amt ließ sich Zeit, doch legte die Editionsgruppe der AAPD 2015 eine Sonderedition "Deutsche Einheit" auf 834 Seiten vor (darin auch Dokumente des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR), angereichert noch durch einen faksimilierten Online-Anhang etwa der gleichen Blattzahl mit weiteren oder in der Papieredition gekürzten Quellen. Vorausgegangen war 2011 eine weitere Edition primär der sowjetischen Überlieferung in deutscher Übersetzung durch Andreas Hilger, der einen weiteren Band mit 50 Dokumenten des AA zu den Gesprächen Außenminister Genschers mit seinem sowjetischen Kollegen ("Diplomatie für die deutsche Einheit", 284 S.) vorlegte.
Die neue Edition AAPD 1990 hinkt also einer voll im Gang befindlichen Diskussion nicht nur hinterher, sondern kann in zentralen Fragen die bislang publizierten Quellen nur ergänzen und vertiefen. Die quellengestützte Forschung ist seit Jahrzehnten in vollem Gang, nicht zuletzt auch durch den in anderen Ländern üblichen Editionen gezielt vorgreifenden Sondereditionen zur deutschen und europäischen Fragen etwa in Großbritannien und der Schweiz oder durch die online-Stellung zentraler britischer oder US-amerikanischer Quellen von führenden Akteuren. Für AAPD 1990 bedeutet das zweierlei: 1. Was ist wirklich neu für die Fragen deutscher Einheit und europäischen Umbruchs? [1] Und 2: was bewegte die Bonner Politik sonst noch in Sachen Außenpolitik?
Anfang 1990 zeichnete sich ab, dass die Weichen auf einen vereinten deutschen Staat gestellt waren. Zentral wurden Gespräche mit den Westalliierten auf allen Ebenen. Von besonderem Interesse wurden die Gespräche der Direktoren in den jeweiligen Außenämtern der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik, für diese Dieter Kastrup. So einigten sie sich etwa am 28. Februar über das künftige Format 2 plus 4 (Nr. 54), was dann gegenüber der DDR und der Sowjetunion durchgesetzt werden musste. Die ersten Verhandlungen dazu folgten bald (Nr. 125, 261 u.ö.). Zahlreiche bilaterale Gespräche etwa der Außenminister, dann aber auch im EG-Rahmen, im NATO-Rat oder bei der UN-Vollversammlung sorgten für eine Abfederung des Vereinigungsprozesses. Natürlich beteiligte sich auch Kanzler Helmut Kohl und sein Ministerialdirektor Horst Teltschik an diesen Verhandlungen oder besser gesagt: Kohl hatte weitgehend die Fäden in der Hand.
Zu diesen Gesprächen der Regierungschefs und Außenminister gibt es zahlreiche Aufzeichnungen im Band. Das Verhältnis Kohls und Genschers führte zu kleineren Konflikten, wie aus Briefchen aus den Nachlässen Kohls und (erstmals) Genschers atmosphärisch unterstrichen wird, nicht zuletzt, wenn sich Ende des Jahres der Kanzler beim Außenminister beklagte, die FAZ berichte doch wohl inspiriert über künftige Karrierepläne Teltschiks (Nr. 402). Wenig Neues erfahren wir über die Rolle Polens und die zögerliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, wohl aber über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes und die erstmals aufkommende Frage von Reparationen. Das galt allgemein und dürfte eines der Hauptgründe gewesen sein, dass die Bundesregierung eine formelle Friedenskonferenz ablehnte, nach außen mit dem Argument, dass Deutschland Jahrzehnte nach dem Krieg als friedliches Glied der Staatengesellschaft anerkannt sei. Vor allem in Nr. 76 vom 21. März lieferte Ministerialdirigent Tono Eitel auf 16 Druckseiten eine grundlegende Positionsbestimmung, wonach man davon ausgehen könne, die Frage nach Entschädigungen sei weitgehend erledigt. Doch das erwies sich als Trugschluss; gerade seitens Polens kam die Frage sehr schnell auf (Nr. 185), aber auch für Griechenland, Israel geriet das Thema auf die Tagesordnung, nicht zuletzt durch die Frage, wie mit Enteignungen der DDR umzugehen sei.
Der deutsche Vereinigungsprozess erforderte natürlich auch zahlreiche Kontakte nach Osten, voran der Sowjetunion, aber auch der Reformstaaten im bisherigen Ostblock, zumal die nach Unabhängigkeit strebenden baltischen Staaten. Ganz zentral - und bis in die politischen Dispute der Gegenwart fortwirkend - wurde die Frage nach der NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands. Seit längerem bekannt war, dass Genscher zunächst konzessionsbereiter war, während Kohl im Einklang mit Washington die Zugehörigkeit Deutschlands nach der Vereinigung in der NATO erhalten wissen wollte. Eine Aufzeichnung des AA vom 21. Mai suchte die Möglichkeiten eines Wandels der sowjetischen Position zumal bei weiterer Abrüstung in Europa zu umreißen (Nr. 148). In den 2 plus 4-Außenministertreffen am 22. Juni in Ost-Berlin (zu der andere Dokumente schon in "Deutsche Einheit" gedruckt waren) wurden dann die wichtigsten Entscheidungen dazu getroffen. Unstrittig ist, dass die Nichtausdehnung der NATO-Strukturen auf das Gebiet der DDR nicht vertraglich fixiert wurde, wohl aber spielte es in den Gesprächen häufig eine wichtige Rolle, am eindrücklichsten in den berühmten Gesprächen im Kaukasus (vgl. die Holzklötze mit den Strickjacken im Bonner Haus der Geschichte!) wird das Herumeiern in der mentalen Verständigung Kohl-Gorbatschow deutlich (Nr. 219, dieselbe Aufzeichnung schon in "Deutsche Einheit", Nr. 353), als der sowjetische Präsident zumindest für die Zeit der weiteren Anwesenheit einen Verzicht auf Ausdehnung der NATO-Strukturen auf die DDR forderte, auch den Verzicht auf Stationierung von Nuklearwaffen auf dieses Gebiet. Man war sich einig, dass es dazu keine öffentliche Erklärung geben solle.
Die Dokumente "Deutsche Einheit" gehen nur bis zum Tag der Einheit am 3. Oktober, so dass für die Zeit danach in AAPD innovativ Weiteres vorliegt. Als Gorbatschow und Außenminister Eduard Schewardnaze nach dem Vollzug der Einheit am 8./9. November in Deutschland waren, drehten sich die Gespräche bereits eher um die Vorgänge innerhalb der Sowjetunion (z.B., ob Jelzin Gorbatschows Platz als Präsident einzunehmen gedenke, wie Kohl fragte - Nr. 372, dazu auch die folgenden Dokumente) und auf die große KSZE-Erklärung von Paris, die "Charta", also um die Prinzipien des Gesamteuropäischen Ersatzfriedens. Intern war man sich im Auswärtigen Amt über die zunehmenden Verfallstendenzen der Sowjetunion klar (Nr. 410).
Solche internen Analysen über die Entwicklung anderer Staaten gehören zu den Stärken der Edition zumal des sich auflösenden Ostblocks. Darüber hinaus finden sich mehr als sonst üblich Runderlasse, also allgemeine Orientierungen der deutschen Botschaften über gehabte Verhandlungen oder Gespräche. Das mag damit zusammenhängen, dass viele unmittelbare Gesprächsaufzeichnungen schon in den genannten anderen Editionen vorliegen. In Sachen deutscher Vereinigung beschreitet dieser Band insgesamt geglückt den schmalen Grat der Präsentation auch neuer Quellen angesichts der Voreditionen.
2. Ein für die Edition neues Thema war die Golfkrise durch die irakische Besetzung Kuwaits am 2. August (Nr. 238). Das hatte vielfältige weltpolitische Aspekte, aber es ging auch um deutsche wie internationale Geiseln im Irak. Dies nimmt beträchtlichen Raum gerade in diversen bilateralen Verhandlungen mit Staaten der Region und im Bündnis ein, so dass der Halbband für die Zeit Juli-Dezember umfangreicher ist als der erste. Die auch sonst in AAPD hervorstechende Vielfalt an anderen und nur scheinbar abseitigen Themen ist auch für 1990 zu loben. Besonders aufgefallen sind mir hier die Fragen von Asyl, Flüchtlingen einerseits und Umwelt andererseits. Zu letzterem gibt es eine Reihe hellsichtiger Analysen, die auch 2021 noch von Interesse sind. So ging es in Nr. 130 um ein Abkommen zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik und in Nr. 309 um eine Ressortbesprechung der Regierung (zentral dabei: "Fortsetzung der Bekämpfung der Fluchtursachen") und um eine europäische Migrationspolitik (Nr. 405 ist intern die Rede von der künftigen "faktischen Einwanderungsgemeinschaft" der EG in Ausgestaltung der Charta von Paris). Die weitere Vielfalt nicht unbedingt erwarteter Themen reicht von Rüstungsverhandlungen über Namibia bis nach Lateinamerika, um nur einige Stichworte zu nennen.
In der editorischen Ausführung ist der Band wie alle Vorgänger exzellent (auch wenn Anregungen aus früheren Rezensionen durchweg nicht aufgegriffen wurden). Drei Register, einleitende Regesten und eine Fülle erläuternder Anmerkungen und Querverweisen umreißen diesen Befund. Nur ein Punkt dieser elaborierten Querverweise sei abschließend mit einer Anregung versehen. Es gibt in den Anmerkungen umfassende Verweise auf die eingangs genannten Editionen oder Links, aber nicht auf alle bereits einschlägig veröffentlichten Akten. Das reicht nicht. Dringend erforderlich ist eine Konkordanz zumindest aller deutschen Quellenveröffentlichungen zum Vereinigungsprozess 1989/90. So etwas kann man leicht online machen, zumal die AAPD nach einer Karenzzeit von vier Jahren im open access zugänglich gemacht werden.
Anmerkung:
[1] Einen anschaulichen Überblick über die Rolle des AA 1989/90 liefern Mitarbeiter der Edition AAPD, wobei der zweite auch für den vorzustellenden Band 1990 mit verantwortlich zeichnet: Heike Amos / Tim Geiger: Das Auswärtige Amt im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, in: Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen, Folgen, hg. von Michael Gehler / Maximilian Graf, Göttingen 2017, 65-90 (Die Editoren von AAPD publizieren regelmäßig auch zu den Akten der Edition, aber außerhalb der Bände auf dem freien wissenschaftlichen Markt und in angemessen nüchterner Diktion).
Jost Dülffer