Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung, Verbannung, Verklärung, Stuttgart: Klett-Cotta 2020, 384 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-608-96371-7, EUR 26,00
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Adam Zamoyski: Napoleon. Ein Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting, München: C.H.Beck 2018
Klaus-Jürgen Bremm: Die Schlacht. Waterloo 1815, Stuttgart: Theiss 2015
Volker Hunecke: Napoleons Rückkehr. Die letzten hundert Tage - Elba, Waterloo, St. Helena, Stuttgart: Klett-Cotta 2015
Andrew Roberts: Napoleon the Great, London: Allan Lane 2014
Volker Hunecke: Napoleon. Das Scheitern eines guten Diktators, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Fabian Rausch: Konstitution und Revolution. Eine Kulturgeschichte der Verfassung in Frankreich 1814-1851, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Alexander C.T. Geppert: Fleeting Cities. Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010
Elise Julien: Der Erste Weltkrieg, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014
Auch 200 Jahre nach seinem Tod erregt Napoleon Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon I., immer noch die Gemüter, zumindest in Frankreich. Heftige Debatten wurden über die Frage geführt, ob und in welcher Form der französische Staat am 5. Mai des illustren Toten öffentlich gedenken sollte; und intensiv wurde gestritten, ob Präsident Macron, der schließlich an der Zeremonie im Invalidendom teilnahm, in seiner Rede den richtigen Ton und die richtige Melange aus Würdigung und kritischer Abgrenzung gefunden hatte. Dabei waren es nicht mehr so sehr die traditionellen Napoleon-Gegner, also Liberale, Republikaner und Royalisten, die sich zu Wort meldeten und gegen die öffentliche Ehrung Sturm liefen, sondern vielmehr die Vertreter:innen des postkolonialen Frankreich, die in Napoleon vor allem anderen denjenigen sehen, der 1802 in den französischen Kolonien die Sklaverei wieder eingeführt hatte.
Ein Buch, das vom Verlag im Klappentext als "überraschende und einzigartige 'Biographie' der posthumen Karriere Napoleons" angekündigt wird und pünktlich zum Jubiläum bei Klett-Cotta erschienen ist, ist in dieser Situation natürlich hochwillkommen - zumal der Autor ein ausgewiesener Kenner der Materie ist: Johannes Willms, langjähriger Feuilleton-Chef und Paris-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, hatte bereits 2005 eine voluminöse Biographie des Korsen veröffentlicht. 2019 hat er eine stark komprimierte Synthese in der Reihe Beck-Wissen nachgelegt; dazwischen lagen Bücher über die Schlacht von Waterloo (2015) und die Verbannung des gestürzten Kaisers auf die Atlantikinsel Sankt-Helena (2007). Auch mit dem "Nachleben" Napoleons hat sich Willms schon in früheren Publikationen beschäftigt, insbesondere in dem Band "Napoleon - Verbannung und Verheißung", der 2000 im Verlag Droemer-Knaur erschienen ist.
Das neue Buch ist trotz der Ähnlichkeit der Titel und einiger textidentischer Passagen keine schlichte Überarbeitung oder Erweiterung des älteren (auf das leider an keiner Stelle verwiesen wird). Überwiegend hat Willms den Stoff gänzlich neu arrangiert. Doch leider führt der Klappentext in die Irre; eine "Biographie der posthumen Karriere" bietet Willms nicht, hatte er auch offensichtlich beim Schreiben nicht im Sinn. Und auch den Begriff des "Mythos" verwendet der Autor ganz in seinem alltagssprachlichen Sinn; er meint also etwas anderes als diejenigen Autor:innen, die seit den 1990er Jahren mit den Werkzeugen soziologischer, ethnologischer oder politologischer Theorien unter diesem Begriff die sinnstiftende Überhöhung historischer Figuren oder Ereignisse im politischen oder kulturellen Diskurs untersucht haben. Die Modalitäten des konflikthaften Prozesses der Überführung von historischem Geschehen zum Mythos, die vielfältigen medialen Erscheinungsformen des Mythos und seine Konjunkturen im zeitlichen Verlauf interessieren Willms ebenso wenig wie die politisch-ideologischen Aneignungen und Ausdeutungen des Mythos. Nach den Napoleon-Bildern in der Literatur wird man daher in diesem Buch ebenso vergeblich suchen wie nach Gedenkfeiern, Geschichtsschreibung, Devotionalien oder Kinofilmen. Willms geht es darum, "die Bedingungen der Möglichkeit für die unvermindert anhaltende, wenn auch kontroverse Faszination [Napoleons] zu ergründen" (8) - also, wenn man so will, um die Vor- oder Entstehungsgeschichte des Mythos.
Der erste, umfangreichste Abschnitt setzt ein mit der Ernennung des Revolutionsgenerals Bonaparte zum Kommandanten der Regierungstruppen, die im Oktober 1795 mit der Niederschlagung des Vendémiaire-Aufstandes in Paris beauftragt waren; ausführlich und detailreich schildert Willms im Anschluss die militärische Kampagne der Jahre 1796/97 in Italien, auf der der militärische Ruhm des nun zum Oberbefehlshaber der Italien-Armee beförderten Bonaparte beruhte - auch wenn viele seiner "Heldentaten", wie Willms zeigt, bei näherem Hinsehen viel von ihrem Glanz verlieren. Die Darstellung ist hier wie auch in den folgenden Kapiteln, die den diplomatischen Ränkespielen auf dem Weg zum Frieden von Campo Formio, dem Ägyptenfeldzug und der Vorgeschichte des Staatsstreichs vom 18. Brumaire 1799 gewidmet sind, eng an der Ereignisgeschichte und am Handeln des Protagonisten orientiert. Zwar wird die napoleonische Selbstinszenierung - etwa die Druckgraphik, mit der Europa überflutet wurde, oder der "Courrier de l'armée d'Italie" - hier und da erwähnt, stets jedoch zieht es den Autor schnell wieder zurück zu den politischen, militärischen und diplomatischen Ereignissen.
Mit dem Staatsstreich des 18. Brumaire endet der erste Abschnitt ("erstes Buch"). Der Faden wird erst im Frühjahr 1814 mit der endgültigen militärischen Niederlage des von Napoleon geschaffenen Empire wieder aufgegriffen; Konsulat und Kaiserreich, also die gesamte Geschichte der napoleonischen Regierungszeit, werden damit ausgespart. Im zweiten "Buch" steht der radikale Imagewandel des um seinen Unbesiegbarkeitsnimbus gebrachten ex-Empereur im Zentrum der Darstellung: vom Schlachtengott und Weltenlenker zum liberalen Vorkämpfer für Freiheit, Frieden und Fortschritt; zunächst während der 100-Tage-Herrschaft Napoleons nach der Rückkehr von Elba im Frühjahr 1815, dann aber vor allem während der Jahre der Verbannung nach Sankt-Helena. Das wichtigste (aber nicht einzige) Instrument war dabei der "Mémorial de Sainte-Hélène" seines Verbannungsgefährten Emmanuel de Las Cases, in dem dieser - mit einigen dichterischen Freiheiten - die Lebenserinnerungen des gestürzten Kaisers aufgezeichnet hat. Überzeugend zeigt Willms dabei die Widersprüche zwischen diesem liberalen Selbstbild aus der Zeit der Machtlosigkeit und der Realität seiner Herrschaftspraxis auf dem Höhepunkt seines Einflusses: "Der Napoleon nach Las Cases hat nicht nur reichlich Kreide gefressen, sondern ist gewissermaßen vom großen bösen Wolf zur liberal gesinnten Großmutter mutiert." (254)
Im dritten "Buch" nimmt Willms schließlich die Anfänge der posthumen Karriere Napoleons in den Blick, nämlich die "napoleonische Nostalgie", die sich nach 1830 in weiten Teilen der Gesellschaft und auch bei führenden Repräsentanten des Regimes breit machte. Im Zentrum steht dabei die Überführung der sterblichen Überreste des gestürzten Kaisers von Sankt-Helena, wo er am 5. Mai 1821 gestorben war, nach Paris im Jahr 1840. Louis-Philippe hatte sich schon vorher um die Erinnerung an die imperiale Vergangenheit verdient gemacht, der retour des cendres sollte diese Aneignung der napoleonischen gloire krönen; er konnte zwar die Opposition von Republikanern, Legitimisten und Bonapartisten gegenüber dem Regime des Bürgerkönigs nicht überwinden, die "Heiligsprechung" (so eine Kapitelüberschrift) Napoleons aber war erfolgreich - mit anhaltender Wirkung, wie Willms in einem abschließenden, äußerst knapp gehaltenen Skizze der weiteren Entwicklung festhält.
Das alles liest sich flüssig und angenehm - doch bleiben nach der Lektüre erhebliche Zweifel, ob die in den drei "Büchern" behandelten Themen tatsächlich die Grundlage des bis heute wirkenden "Mythos Napoleon" sind. Unstrittig ist dies sicherlich in Bezug auf den "Mémorial de Saint-Hélène", ohne den die Einbeziehung Napoleons in eine linke, liberale oder republikanische Traditionsbildung nicht denkbar gewesen wäre. Viel weniger überzeugend ist es hingegen, sich bei der militärischen und politischen Geschichte Napoleons ganz auf die Jahre 1795-99 und bei der Erinnerungsgeschichte ganz auf die Aneignungs- und Instrumentalisierungsversuche der Julimonarchie zu konzentrieren. Zu viele konstitutive Elemente des Mythos werden dabei unterschlagen, nicht zuletzt die während den napoleonischen Kriegen entstandene, im In- und Ausland gepflegte légende noire des Kaisers als menschenfressendes Ungeheuer.
Noch störender ist, dass Willms bei seinen Ausführungen die ursprünglich formulierte Frage nach den Voraussetzungen der Napoleon-Faszination immer wieder fast gänzlich aus den Augen verliert. Willms ist ein Erzähler, und seine Stärke ist die anschauliche, quellengesättigte, weitgehend am Handlungsablauf orientierte Darstellung militärischer Ereignisse und politischer (insbesondere diplomatischer) Ränkespiele. Aber so spannend sich Willms' Prosa liest - welchen Erkenntniswert für die Fragestellung hat etwa das Geschacher um die Zukunft der Republik Venedig zwischen Bonaparte, dem Direktorium und der österreichischen Regierung oder das Gerangel um Rang, Einfluss und Liebe zwischen den vier Begleitern Napoleons in Sankt-Helena? Liefern die minutiös rekonstruierten Ereignisse eine Erklärung für den Mythos? Eher das Gegenteil ist der Fall. Willms zeigt sehr deutlich die Schwächen des Protagonisten, den Anteil des Glücks bei seinen militärischen Erfolgen, seinen unstillbaren Ehrgeiz, seine Verachtung für politische Werte. Nähme man die Fragestellung ernst, müsste man untersuchen, wie ihm dennoch die Selbststilisierung zum übermenschlichen "Helden" und "Heiland" gelingen konnte, welcher Medien und welcher diskursiven Strategien er sich dabei bediente, welche Erwartungen er bei welchen Bevölkerungsgruppen befriedigte und welche Hoffnungen und Träume er nährte. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist "Mythos Napoleon" daher eher eine Enttäuschung - auch deshalb, weil der Autor konsequent jeden Bezug auf die Arbeiten anderer Historiker:innen meidet und die durchaus umfangreiche Forschung zur "posthumen Karriere" des Korsen souverän ignoriert.
Daniel Mollenhauer