Adam Zamoyski: Napoleon. Ein Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting, München: C.H.Beck 2018, 863 S., 28 Kt., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-72496-1, EUR 29,95
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Adam Zamoyski, einer der besten Kenner Napoleons und seiner Zeit, hat nach "1812" und "1815" wieder eine Meistererzählung verfasst: "Napoleon. Ein Leben". Literatur über Napoleon gibt es zuhauf und auch etliche Biografien sind darunter. Grundlegend neue Erkenntnisse über Napoleon sind daher nicht zu erwarten. Napoleon ist eben eine der am besten erforschten historischen Größen, und die Zeitgenossen haben unendlich viele Briefe und Memoiren über Napoleon hinterlassen, die alle bekannt sind. Und dann noch die Mythifizierung Napoleons nach seinem Tode als genialer Feldherr, weiser Staatenlenker, einer, der Frankreich wirklich groß gemacht hat, und eigentlich die Chance eines vereinigten Europas. Wenn nun eine neue Biografie auf den Markt kommt und sie wirklich neu sein will, dann kann sie sich nur in der Perspektive unterscheiden, wie Napoleon dargestellt wird und in der Gewichtung seiner Bedeutung. Und genau dies ist der Fall.
Der Schlüssel zum Werk ist der Untertitel: "Ein Leben". Nur zwei Worte, die aber Werk und Intention Zamoyskis beschreiben. Es geht ihm um das ganze Leben Napoleons, nicht nur die politische, militärische und gesellschaftliche Bedeutung. Es geht um alle, wirklich alle Facetten des Menschen Napoleons. Und zu all diesen Facetten zählt seine Herkunft aus eher moderaten, mitunter ärmlichen korsischen Verhältnissen, die so prägend waren, dass er zeitlebens kein ordentliches Französisch sprach. Die frühe Familiengeschichte nimmt einen ungewohnt breiten Raum ein, bis hinunter zur Möblierung des elterlichen Hauses und der Geschichte des Gebäudes. Ebenso die manchmal sehr eigenartigen Beziehungen zu Brüdern und Schwestern. Zu einem Leben gehört auch das Private, das Intime, das sehr Intime. Wir werden bestens informiert über die ersten sehr unsicheren Schritte Napoleons auf sexuellem Gebiet, über seine auch über die Scheidung hinaus währende, intensive Beziehung zu seiner ersten Frau, der älteren und sehr erfahrenen, der weltläufig-mondänen und ebenso leichtlebigen Josephine Beauharnais - alles Eigenschaften, die Josephine hatte und Napoleon eben nicht. Wir werden dann ebenso eingängig über die nicht wenigen Liebschaften des älter gewordenen Napoleons informiert. Über die Beziehung dann zu seiner anscheinend wirklich geliebt zweiten Frau, der Kaisertochter Marie Louise, von deren Heirat er sich erhoffte, wirklich anerkannt zu werden von den gekrönten Häuptern Europas von Gottes Gnaden. Das offenbart einen Grundwiderspruch seines Lebens: Einerseits General der Revolution zu sein, der Throne demütigt, schafft oder hinwegfegt, ganz nach seinem Belieben und militärischem Erfolg. Und dann sein Bestreben eben von diesen Thronen als ihresgleichen anerkannt zu werden. Dazu gehören auch ein verschwenderisches Hofleben und pompöse Feste. Bis an die Grenze der Lächerlichkeit werden Repräsentation und höfische Formen des Ancien Régimes von dem korsischen Parvenue kopiert.
Wir lernen Napoleon jedoch auch als einen Menschen kennen, der beim Kartenspiel schummelt, der jovial, menschlich gewinnend und faszinierend sein kann - nicht nur für seine Soldaten, die ihn so oft auch wegen der gespürten und oftmals geteilten Nähe bewundern und sich willig für ihren Napoleon opfern, der aber jähzornig, derb beleidigend ist und kalt eben diese Soldaten zu Hunderttausenden auf dem Schlachtfeld opfert, um seinen Ehrgeiz durchzusetzen bis zum bitteren Schluss. Ein Mensch, der es mit der Wahrheit nie genau genommen hat, der in seinen amtlichen Verlautbarungen über seine militärischen Erfolge von Anfang bis zum Ende ganz schön übertreibt, auch lügt und so schon zu Lebzeiten seinen eigenen Mythos schafft, dem er letztlich selber erliegt: Der unbezwingbare General, der immer siegt. 1812 waren da nur widrige Naturumstände. Die nächste Schlacht wird es zeigen. Egomanie, Ehrgeiz und Ehrsucht gepaart mit Realitätsverlust besiegeln das bittere, aber selbstverschuldete Ende.
Wenn bis jetzt der Eindruck entstanden sein sollte, der Schwerpunkt des Buches läge auf dem Menschlichen, dem Allzumenschlichen, so ist dies zwar ein Schwerpunkt, der das ganze Werk durchzieht, aber eben nur ein Schwerpunkt. Das Politische, das Militärische, das Gesellschaftliche nehmen ebenso breiten Raum ein. Das Private wird eingeflochten in die großen Zusammenhänge. Aber man könnte auch sagen, die großen Zusammenhänge werden eingeflochten in das Private. Es wird eben das Leben einer großen historischen Person in seiner Gänze dargestellt. Als Resultat dann das vielleicht überraschende Urteil über Napoleon: Zamoyski "kann nichts Übermenschliches entdecken". Napoleon "ließ zwar einige außerordentliche Eigenschaften erkennen, aber in vielem war er sehr durchschnittlich" und sehr in Anlehnung an Hegel, der nicht genannt wird: "Napoleon war in jeder Beziehung ein Kind seiner Zeit; er war in vieler Hinsicht der Inbegriff seiner Epoche." "Seine Pläne waren nicht ehrgeiziger als die von Zeitgenossen wie Alexander I. von Russland, Wellington, Nelson, Metternich, Blücher, Bernadotte und anderen mehr". Was seinen Ehrgeiz so außergewöhnlich machte, war dessen Ausmaß, das die Umstände ihm möglich machten" (Vorwort, 11-13).
Mit diesem Urteil reiht sich Zamoyski in die Versuche ein, Geschichte zu dekonstruieren, überkommene Bilder im Guten wie im Schlechten zu entmystifizieren. Dies ist Zaymoyski gründlich gelungen. Im Buch wird Geschichte "erzählt" - und dies meisterhaft. Und wenn Geschichte "erzählt" wird, so sagt das etwas aus über die methodische Grundposition Zamoyskis. "1812" und "1815" sind darin ähnlich. Gleichwohl ist die Erzählung immer wissenschaftlich fundiert. Alle Ausführungen werden - zum Teil Absatz für Absatz - mit Verweisen auf Quellen und Sekundärliteratur belegt.
Die Perspektive auf das ganze Leben Napoleons bringt jedoch mit sich, dass das Buch nur ein Buch über Napoleon und weniger über seine Zeit ist. Einbettungen in den historischen Rahmen, strukturelle Bezüge kommen zwar auch vor, aber sie bilden - naturgemäß - nicht den Schwerpunkt des Buches, sondern werden eher Napoleons Leben begleitend dargeboten. Ein Leser, der nicht vom Fach ist, wird sich bisweilen schwertun, historische Vorgänge einzuordnen. Aber dann wäre das ohnehin mehr als 800 Seiten starke Buch fast unlesbar dick geworden.
Ein jeder Leser wird das Buch mit Vergnügen und auch mit Gewinn lesen. Denn obgleich die Einzelheiten so gut wie alle in der Forschung bekannt sind, ist es jedoch ihre Fülle, die für jeden Leser viel Neues birgt, ganz gleich, ob vom Fach oder nicht. Und es ist nicht zuletzt die Gesamtwürdigung Napoleons, die aufhorchen lässt: Ein Mensch, der in vielem durchschnittlich war und nur ein "Kind seiner Zeit", der letztlich an sich selbst gescheitert ist und groß geworden ist, weil es die Umstände erlaubten.
Manfred Hanisch