Andrew M. Riggsby: Mosaics of Knowledge. Representing Information in the Roman World (= Classical Culture and Society), Oxford: Oxford University Press 2019, XVI + 256 S., 8 Farb-, 29 s/w-Abb., 8 Tbl., ISBN 978-0-19-063250-2, GBP 47,99
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Man hätte kaum gedacht, dass sich die Römer vor etwas für uns so Alltäglichem wie einer Tabelle gefürchtet haben könnten. Spannenderweise weist Andrew Riggsbys Studie unter anderem genau dies nach, wenn sie untersucht wie die Römer, d.h. Verwender des Lateinischen im Imperium Romanum bis 300 n. Chr., im Alltag komplexe Informationstechnologien eingesetzt haben, und qualitativ einzuschätzen versucht, in welchen Kontexten, wie und warum sie das taten. Sie bündelt damit Teile der stetig wachsenden Forschungsliteratur zu römischen Modi der Welterfassung und -erfahrung, [1] stellt dieses Forschungsfeld jedoch durch ihren nuanciert kulturalistischen Zugriff zugleich auf eine völlig neue Grundlage.
Die betrachteten Technologien sind vielfältig und werden auf Basis einer umfassenden Kenntnis des verstreut überlieferten Materials untersucht: komplexe Listenformen (vor allem verschachtelte Listen und Tabellen), Maße und Gewichte, die Perspektive in der Wandmalerei, Pläne und Karten. Die zentrale Hypothese ist eine nuanciert primitivistische: zwar gab es all diese Technologien, aber sie verbanden und vereinheitlichten die römische Welt nicht, sondern zergliederten sie, weil sie nur lokal und kontextspezifisch angewendet wurden. Es wurden stets nur so viel kognitive und technologische Ressourcen eingesetzt, wie nötig waren, um in einem bestimmten Handlungskontext ein bestimmtes Ziel einigermaßen zu erreichen - über Ungenauigkeiten wurde großzügig hinweggesehen. Der Autor weist also das in der Verhaltensökonomik gut bekannte 'Trägheitsaxiom' auf informationstechnologischer Ebene für die römische Antike nach. [2]
Riggsby sieht hierfür vor allem drei Gründe: die ideologische Priorität des (gesprochenen) Wortes und einer damit einhergehenden Abneigung der Elite gegenüber paratextlichen Elementen wie Diagrammen oder Tabellen; die Verknüpfung solcher Elemente mit Berufsgruppen niederen Standes (Vermessern, Zeichnern, Architekten); das Fehlen eines staatlichen Interesses an metrologischer Durchdringung, weil es ausreichte, Daten immer lokal zu erheben und allenfalls proportional in Beziehung zu setzen. In der Summe steht am Ende der Studie das titelgebende Mosaik: römische Informationstechnologie produzierte viele lokale Inseln, oder eben lose verbundene Tesserae, anstelle einer zentralisierten, top-down produzierten Informationsökonomie.
Man merkt diesem Buch seine lange Entstehungszeit (begonnen 2010) durchweg positiv an. Jeder Absatz ist Zeugnis tiefschürfender Auseinandersetzung mit einer großen Materialfülle und der Autor fasst seine Kernerkenntnisse stets sehr konzise und reflektiert zusammen. Diese immense Reife ist die größte Stärke des Werkes, birgt jedoch zugleich eine Schwäche. Die - gut lesbare - Dichte verbirgt häufig die Grundlagen der Analyse, die stets nur beispielhaft durchgeführt wird, aber auf einer Synopse des Materials fußt. Da Ergebnisse oft auf dem Fehlen von Evidenz fußen, ist man häufig gezwungen, dem Autor schlicht zu vertrauen; dies gilt besonders für die ersten Kapitel zu Listen und Tabellen. Stellenweise erschwert das die kritische Einschätzung der Aussagen, besonders da kaum jemand Expertin oder Experte für all diese Teilbereiche sein wird. Die Dichte des Buches erschwert ferner auch eine Vorstellung aller Ergebnisse an dieser Stelle. Es seien daher exemplarisch anhand des zweiten Kapitels zu Tabellen das Vorgehen und die Kernergebnisse herausgestellt.
Der Autor kritisiert hier zunächst die Ansicht, dass die Tabelle historisch universell sei und präzisiert, wie er es eigentlich immer tut, ihre Definition. Für ihn zeichnen sich echte Tabellen dadurch aus, dass Spalten und Reihen unabhängig voneinander Verwendung finden können, leere Zellen respektiert werden und sie so mehr Informationen bereitstellen als eine Liste mit mehreren Datenpunkten pro Eintrag. Riggsby stellt fest, dass nach dieser Definition Tabellen kaum zu finden sind, sich aber in ganz bestimmten Kontexten lokal doch greifen lassen - auch diese Beobachtung ist im Buch häufig. Es folgt eine genaue Diskussion von Beispielen für tabellenartige Objekte. Gerade bei der Diskussion der Fasti (55-57) fragt man sich jedoch, ob die epigraphisch-monumentale Aufbereitung der erhaltenen Fassungen hier nicht eigene Prioritäten gesetzt hat, die die zugrundeliegenden Arbeitsdokumente nicht unbedingt hatten - ebenfalls ein Einwand, der sich mehrfach anbringen ließe. Schließlich ist es hier durchaus möglich, die Spalten einzeln zu verwenden; das Gegenargument, dass in der epigraphischen Form leere "Zellen" ausgelassen und der Inhalt "linksbündig" präsentiert wird, kann auch der repräsentativen Form und ihren Konventionen geschuldet sein. Insgesamt sind seine genauen Analysen jedoch überzeugend. Tabellen waren deshalb so selten, weil sie durch die obligatorischen Querverweise auf die Kolumnen- bzw. Spaltentitel kognitiv anstrengend sind. Ferner sind sie paratextliche graphische Elemente - besonders erhellend ist hierbei die Diskussion einer Passage aus Quintilians Statuslehre (3.6.63-83; 42f., 77), in der Quintilian eine einfache Tabelle beschreibt, seine Leser aber vor ihrer Komplexität warnt und die Ergebnisse im Anschluss vereinfacht; die Tabelle wird eben gerade nicht gezeichnet. Die wichtigsten Ausnahmen, militärische Dienstpläne und die Raster der Landvermesser, erstanden aus kontinuierlicher, praktischer Kollaboration bzw. aus direkter Vermessung des Bodens durch Experten. Letztlich findet sich in Riggsbys Material damit kein einziges Beispiel, das alle seine Kategorien abdeckt, wodurch die Nichtabstraktion dieser Informationstechnologie von ihrem lokalen, zweckgebundenen Einsatz eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird.
Insgesamt ist dieses Buch eine herausragende Forschungsleistung. Natürlich kann man Elemente kritisieren - Riggsby weitet und verengt Definitionen, etwa des Inhaltsverzeichnisses, des Raums oder der Karte, um seinen Zugriff auf das Material zu stützen; das Kapitel zu Wandmalereien lässt zahlreiche andere Dimensionen römischer Perspektivarbeit aus dem Blick und vernachlässigt den kognitiven Zugriff der tatsächlichen arbeitenden Künstler; es fehlt die Münzprägung - doch die Argumentation ist so ausgereift, dass das Fazit tatsächlich einem echten Ausblick in die Zukunft dieses Forschungsfeldes gleicht. Es regt dazu an, den Konnex zwischen Macht und Informationstechnologie und den tiefgreifenden Wandel dieser Informationsökonomie in der Spätantike in den Blick zu nehmen. Somit bleibt nur zu hoffen, dass diese Ergebnisse eine breite Leserschaft finden und so weitergesponnen werden, wie es diese von OUP fast fehlerfrei produzierte und mit schönen Abbildungen unterstützte Studie verdient hat.
Anmerkungen:
[1] Jason König / Tim Whitmarsh (eds.): Ordering knowledge in the Roman empire, Cambridge 2007; Daryn Lehoux: What Did the Romans Know? An Inquiry into Science and Worldmaking, Chicago 2012; Courtney Roby: Experiencing Geometry in Roman Surveyors' Texts, in: Nuncius 29 (2014), 9-52; Courtney Roby: Technical Ekphrasis in Ancient Science and Literature: The Written Machine between Alexandria and Rome, Cambridge 2016; Jason Morris: Forma factus est: Agrimensores and the Power of Geography, in: Phoenix 72:2 (2018), 119-142; Clifford Ando / William P. Sullivan (eds.): The discovery of the fact. Law and society in the ancient world, Ann Arbor 2020.
[2] David Gal: A psychological law of inertia and the illusion of loss aversion, in: Judgment and Decision Making, 1:1 (2006), 23-32.
Henry Heitmann-Gordon