Rezension über:

Angelos Chaniotis: Emotionen und Fiktionen. Gefühle in Politik, Gesellschaft und Religion der griechischen Antike, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2023, 224 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4489-2, EUR 29,00
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Rezension von:
Henry Heitmann-Gordon
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Henry Heitmann-Gordon: Rezension von: Angelos Chaniotis: Emotionen und Fiktionen. Gefühle in Politik, Gesellschaft und Religion der griechischen Antike, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38686.html


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Angelos Chaniotis: Emotionen und Fiktionen

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Dass der Zorn des Achill die Ilias eröffnet, ist wahrscheinlich noch immer Teil des Allgemeinwissens. Sicher schon etwas weniger bekannt ist, dass der Zorn auch die Odyssee beendet - in diesem Fall ist es der des Zeus. Die Rahmung dieser für die griechische Kultur so entscheidenden Epen durch eine Emotion führt vor Augen, wie zentral Emotionen im griechischen Denken waren. Dasselbe, wenn auch auf viel breiterer Grundlage, zeigt schön Angelos Chaniotis bündige Studie, die sich auf die Frage nach der Rolle von Emotionen bei der Schaffung von sinnstiftenden Fiktionen im langen hellenistischen Zeitalter (ca. 330 v.Chr. - 230 n.Chr.) konzentriert. Als Epitome von Chaniotis langjähriger Forschungsarbeit zu Emotionen richtet sich das Buch dabei an eine breite Leserschaft.

Chaniotis' Zugriff erweist sich in zweierlei Hinsicht als besonders klug. Wie er mehrfach herausstellt, bleibt Historiker:innen der Antike das emotionale Erleben vergangener Akteure meist verschlossen. Greifen lässt sich dagegen die Darstellung und Nutzung von Emotionen als Mittel der Überzeugung und Wertstiftung. Zum zweiten verschiebt sich in der von ihm gewählten Epoche die Emotionalität der Sprache, und zwar gerade in den Inschriften, die Chaniotis ins Zentrum stellt. Dieses Material erlaubt es ihm, in sieben Kapiteln - zu Furcht und Hoffnung im Umgang mit den Göttern, zur Nahbarkeitsfiktion der liebevollen hellenistischen Herrscherfamilie, zur Hoffnung und Fürsorge in den Honoratiorenregimen der griechischen Poleis, zum Zorn als Mittel machtvoller Kommunikation, zur Fiktion des fürsorglichen Sklavenbesitzers, zur emotionalen Einordnung des Todes auf Grabinschriften, und zu Ekelurteilen als Mittel der Ausgrenzung - einen ebenso frischen wie bunten Strauß an Nutzungsmöglichkeiten und Argumentationsstrategien zu entfalten.

Die Aufdeckung verschleierter Machtbeziehungen zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Buch. Angetrieben durch Priesterschaften und Machthaber festigen hier Narrative der Angst vor zornigen Göttern und Königen, stets verbunden mit der Hoffnung auf Rettung, etablierte gesellschaftliche Hierarchien (Kapitel 1 und 4). Die öffentlichkeitswirksame Darstellung von Liebe und Zuneigung stützt die Akzeptanz von Herrscherfamilien und der Sklaverei (Kapitel 2, 3 und 5). Selbst in der epigraphischen Vermittlung von Trauer an Passanten und den verzweifelten Bitten sprechender Grabsteine um Mitgefühl für die Verstorbenen schwingt stets die Machtlosigkeit aller Beteiligten gegenüber der herzlosen Undurchschaubarkeit des Todes mit (Kapitel 6). Der von Chaniotis wirkmächtig an den Schluss gestellte Ekel, von Martha Nussbaum am Beispiel der Verbote von Homosexualität als nur vermeintlich natürliche Grundlage so vieler arbiträrer menschlicher Ordnungen entlarvt [1], setzt mit der ausgrenzenden Gewalt des physischen Unwohlseins dem Ganzen schließlich die Krone auf, wenn der Autor vorführt, wie etwa Kultgesetze wie das des Dionysios (TAM V.3.1539; Seite 183f.) institutionelle Hierarchien der Ausgrenzung mit in die Sprache der Reinheit gekleideten Ekelurteilen untermauern (Kapitel 7).

Die Interpretation kreist damit stets um die Zusammenhänge zwischen hierarchischer Abgrenzung und Gemeinschaftsbildung, die in diesen emotionalen Narrativen in eins zu fallen scheinen. Chaniotis macht einmal wieder eindrücklich deutlich, wie affektiv antike moralische und soziale Werte konstruiert waren und welche Rolle das Erzählen von berührenden Geschichten darin einnahm, sie zu stabilisieren. [2] Damit ordnet sich das Werk in eine Flut von emotionsgeschichtlichen Werken ein, die seit den 1990er Jahren anhält und sich seit etwa 10 Jahren auch in Nachschlagewerken niederschlägt. [3] Diese Forschungslandschaft bereichert Chaniotis selbst von Anfang an und auch dieses Buch schlägt damit in eine inzwischen etablierte Kerbe, wonach die Narrativanalyse eine zentrale Stärke der Emotionsgeschichte ist, gerade weil man so nicht in biologischen Determinismus verfällt. [4]

Andererseits muss man sich auch fragen, ob die Darstellung nicht Probleme der Emotionsgeschichte zu sehr verflacht. Die in diesem Bereich zentrale und sich rasant entwickelnde Neurowissenschaft wird verständlicherweise nur schematisch gestreift, führt aber auch dazu, dass etwa die Interpretation des Ekels als biologische Schutzreaktion als ein Faktum dasteht, das es nicht unbedingt ist. [5] Es fällt ferner ins Auge, dass von den drei einleitend aufgerufenen Konzepten (19) nur eines, die Zurschaustellung von Emotionen als Überzeugungsstrategie, durchweg Niederschlag findet. Joseph LeDouxs Vorstellung von Emotionen als Überlebensschaltungen (survival circuits), deren Relevanz mir höchstens im übertragenen Sinne gegeben scheint [6], und Barbara Rosenweins berühmte emotionale Gemeinschaften (emotional communities) werden allenfalls stellenweise aufgerufen.

Ein Vergleich mit David Konstans The Emotions of the Ancient Greeks (Toronto 2006), noch auf dem vermeintlich sicheren Grund der basic emotions geschrieben, zeigt weiterhin, dass Chaniotis' Text für die Unterschiede zwischen antiker Konzeptualisierung und den wolkigen modernen Assoziationen der von ihm verwendeten Emotionsbegriffe wenig Raum hat. Chaniotis' Griechen wirken emotional nahbar, während Konstans Portrait fundamentale Unterschiede in der Konzeption hervorhebt. So versteht Aristoteles Emotion (pathos) als Reaktion auf äußere Reize. Der Zorn wird damit beispielsweise grundsätzlich als gerecht verstanden, die Liebe erscheint als wechselseitig altruistisches Gefüge aus Gabe und Gegengabe, die Angst als Reaktion auf einen Übergriff. Der Einfluss solcher Unterschiede spielt hier allenfalls eine untergeordnete Rolle.

Dies ist auch deshalb problematisch, weil vieles darauf hindeutet, dass Aristoteles Unrecht hatte. Emotionen sind keine einfachen Stimulusreaktionen, sondern Kombinationen aus Stimulus, Kontext, Konzept und erlerntem Verhalten, also eine Art diffuses Skript. [7] Aber auf diese Skripte müssten eben auch Chaniotis' Begriffe und Erzählungen einwirken, in einer historisch dynamischen Weise, die hier trotz der Breite an vorgestellten Texten nur stellenweise zum Vorschein kommt. Die 500 Jahre hellenistische Emotionsfiktionen bleiben recht monolithisch, Wandel wird lediglich im Vergleich zur Klassik und zur Spätantike konstatiert. Auch die trotz Chaniotis' deutlicher Fokussierung auf das Narrative des Öfteren aufscheinende Trennung aus Realität und Fiktion, besonders im Kapitel über die Fiktion der Fürsorge für Sklaven (122-127), stimmt nachdenklich, wenn sinnstiftende Narrative auf das eigentliche Fühlen zurückwirken. Ist es für Historiker:innen legitim, Fürsorgebekundungen als Fiktion zu entlarven und Angst vor dem Herrn als kalte Realität zu zeichnen? Oder sollten sie als emotionsgetriebene Narrative gleichberechtigt nebeneinanderstehen, weil gerade (wie in Kapitel 6) die Pluralität der Narrative den Diskurs verkompliziert und gerade dadurch Machtasymmetrien zementiert?

Insgesamt ist dieses Buch aber ein Genuss, zugleich bereichernd, lehrreich und ungeheuer gut lesbar. Seine Buntheit ist damit ein schönes Abbild seines Gegenstandes - mitsamt all seinen Herausforderungen.


Anmerkungen:

[1] Martha Nussbaum: Hiding from Humanity: Disgust, Shame and the Law, Princeton, NJ 2004.

[2] So schon Douglas Cairns: Aidōs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993; allgemein Ronald De Sousa: Really, What Else Is There? Emotions, Value, and Morality, in: Critical Quarterly 50:4 (2008), 12-23.

[3] In jüngerer Zeit etwa EAH & OCD s.v. "Emotions"; Douglas Cairns (Hg.): A Cultural History of the Emotions in Antiquity, London 2019.

[4] Angelos Chanios: Theatricality beyond the Theater: Staging Public Life in the Hellenistic World, in: De la scène aux gradins. Thêatre et représentations dramatiques après Alexandre le Grand dans les cités hellénistiques. Actes du Colloque, hg. von Barbara Le Guen, Toulouse 1997, 219-259; Angelos Chaniotis (Hg.), z.T. mit Pierre Ducrey: Unveiling Emotions I-III, Frankfurt am Main 2012-2021; Mathieu de Bakker / Baukje van den Berg / Jacqueline Klooster (Hgg.): Emotions and Narrative in Ancient Literature and Beyond: Studies in Honour of Irene de Jong, Leiden / Boston 2022. Zum Problem des Determinismus siehe Jan Plamper: Geschichte und Gefühl, München 2012, 327, zu Narrativen 335-338.

[5] Joshua Rottmann / Jasmine M. DeJesus / Emily Gerdin: The Social Origins of Disgust, in: The Moral Psychology of Disgust, hgg. von Nina Strohminger / Victor Kumar, London / New York 2018, 27-52.

[6] Survival circuits und in der Sprache geäußerte menschliche Emotionskategorien lassen sich allenfalls diffus zueinander in Beziehung setzen. Siehe etwa Dean Mobbs / Joseph LeDoux: Editorial Overview: Survival Behaviors and Circuits, in: Current Opinion in Behavioral Sciences 24 (2018), 168-171: "[S]urvival circuits exist to control behavioral and physiological functions, rather than to generate conscious emotions."

[7] Agneta H. Fischer: Emotion Scripts: A Study of the Social and Cognitive Facets of Emotions, Leiden 1991.

Henry Heitmann-Gordon