Jürgen Sarnowsky (Hg.): Wahrnehmung und Realität. Vorstellungswelten des 12. bis 17. Jahrhunderts (= Nova Medivaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter; Bd. 17), Göttingen: V&R unipress 2018, 401 S., 22 Abb., ISBN 978-3-8471-0296-0, EUR 55,00
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Die am vorliegenden Band Beteiligten haben sich mit dem Spannungsverhältnis von Realität und ihrer Wahrnehmung beziehungsweise Darstellung einem Thema gewidmet, das einerseits in der Geschichtswissenschaft bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, andererseits aber gegenwärtig auch in der breiten Gesellschaft stark diskutiert wird. Verwiesen sei hier auf die Schlagworte der "alternativen Fakten" oder "Fake News", auf die Diskussionen um den Umgang mit verschiedenen Informationsquellen oder auf die Bemühungen um eine bessere Repräsentation von bisher minorisierten Gesellschaftsgruppen in Sprache und Alltag. Vor diesem Hintergrund handelt es sich um einen Gegenstand, der wohl aktueller kaum sein kann.
Auf den ersten Blick macht der Band einen ansprechenden Eindruck, er liefert eine kurze Einleitung des Herausgebers, zehn deutschsprachige und drei englischsprachige Artikel, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie ein Register. Die Artikel sind in drei Abschnitte sortiert, deren erster und umfangreichster den "säkularen Vorstellungswelten" gewidmet ist, wie sie aus englischen, deutschen und italienischen Quellen der mittelalterlichen Chronistik, des Erbrechts, der Sozialkritik und der frühneuzeitlichen Physikforschung zu ermitteln sind. Unter "Spiritualität und Orden" fokussieren sich gleich mehrere Arbeiten auf den deutschen Orden, sowohl aus interner wie aus externer Perspektive der Zeitgenossen. Eine Darstellung des zisterziensischen Konverseninstituts sowie des Heiligen Landes in Reiseberichten und literarischen Texten ergänzen diesen Blick. Der letzte Abschnitt ("Ferne Welten: die europäische Wahrnehmung Südostasiens") umfasst zwei Aufsätze, die aus einem Workshop im Jahr 2015 hervorgegangen sind. Sie thematisieren die Verbindungen Europas nach Indonesien, dessen Beschreibungen durch Europäer bis ins späte 13. Jahrhundert zurückreichen und die seit dem 16. Jahrhundert ein wichtiges Element der Vereinigten Ostindien-Kompanie waren. Insgesamt sind also die geographischen und thematischen Grenzen gleich an mehreren Stellen erfreulich weit gefasst, sodass eine Vielfalt an betrachteten Realitäten und Wahrnehmungen zu erwarten ist.
Nach der Lektüre jedoch ist sich die Rezensentin unsicher, ob sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln soll, oder ob sie mit einer eher enttäuschenden Realität konfrontiert ist. Die Neugier nach den jüngsten Erkenntnissen zur Erforschung von Verzerrungseffekten in historischen Quellen wird jedenfalls kaum befriedigt; das Ziel des Bandes bleibt etwas unklar. So irritiert es direkt zu Beginn, dass die beiden Begriffe des Titels, die philosophisch durchaus komplexe Fragen aufwerfen, in der Einleitung weder definiert noch schlüssig in den als Fluchtpunkt genannten Ansatz der Vorstellungsgeschichte eingebettet werden, die eine Klammer um die Beiträge des Bandes bilden soll. Es ist also vor allem das Verdienst zweier Artikel (Wenzel, 302-303, und Steude, 331-332), jeweils einen kurzen inhaltlichen Abriss der Methodik und Problematik der Vorstellungsgeschichte zu präsentieren, der auch für die anderen Arbeiten hilfreich ist.
Der Großteil der Artikel greift die Thematik des Bandes nicht explizit auf. Vielmehr werden an vielen Stellen hauptsächlich eine oder mehrere Quellen paraphrasiert, deren Aussagen kritisch hinterfragt, beziehungsweise kontextualisiert werden. Eine Spannung zwischen Wahrnehmungen und somit gegebenenfalls eine indirekte Einkreisung der Realität, wie immer diese auch zu definieren wäre, entsteht vornehmlich dort, wo zwei oder mehrere Quellen gegenübergestellt und Unterschiede herausgearbeitet werden. Hintergründe und Absichten der Schreibsituation werden erläutert, die gezielt geformte Darstellung von Personen, Gegenständen und Ereignissen für ein europäisches Publikum aus Adel, Klerus und Bürgertum mehrfach betont. Gelungen ist dies beispielsweise in der Auswertung von mehr als einem Dutzend ordensinterner und -externer Quellen hinsichtlich der unterschiedlichen Bewertung des Hochmeisters Friedrichs von Sachsen (Steude, 329-355), sowie im Artikel über den Niederländer Georg Rumphius, der im 17. Jahrhundert seine naturkundlichen Beschreibungen mit Erläuterungen der indonesischen Kultur ergänzt, um Steine und Pflanzen anekdotisch aufzuwerten und dem europäischen Publikum eine Folie des "Anderen" zu bieten (Arens und Leuker, 371-391).
An anderer Stelle wird ein solcher Abstraktionsgrad nicht immer erreicht, sodass der Gewinn der Lektüre sich vor allem in der Kenntnis lohnender Quellen erschöpft. Besonders schmerzlich ist, dass die Frage nach dem Bild König Richards II. bei Thomas Walsingham (Rudolph, 41-67) bereits ausführlich und teilweise sogar klarer in einem Artikel von 1984 [1] behandelt wurde, der zwar in einer Fußnote genannt wird, aber offenbar keine Verwendung fand. Hier bestätigt sich traurigerweise in wenigen Recherchezügen der auch anderweitig aufkommende Verdacht, dass der aktuelle Forschungsstand nicht immer zugrunde liegt.
Etwas ratlos hinterlässt der 89 Seiten umfassende Artikel zu Galileo Galilei (Hoffmann, 121-210), der einen überaus detaillierten Nachvollzug der physikalischen Experimente des Universalgelehrten zur schiefen Ebene und zum freien Fall liefert. Auch unter Abzug der nur rudimentären Physik-Kenntnisse der Rezensentin stellt sich hier doch die Frage, inwiefern die zahlreichen mathematischen Herleitungen dem Thema des Bandes Rechnung tragen. Zwar werden auch bewertende - somit wahrnehmende - Stimmen aus dem rezipierenden Umfeld Galileos und aus der Forschung ausführlich dargestellt, doch eine klare Verbindung zwischen der Geschichte der Naturwissenschaft und der aufgeworfenen Frage von Wahrnehmung und Realität gelingt nicht.
Nun ist dem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren zu entnehmen, dass die meisten Beteiligten zum Zeitpunkt der Anlage des Bandes Master- und Promotionsstudierende waren. Dies muss einerseits das Urteil über gewisse Nachteile abschwächen, verschiebt aber andererseits die Verantwortung auf Herausgeber und Verlag. Denn auch wenn Arbeiten von Studierenden "Forschung" sind und einen wichtigen Beitrag leisten können, muss doch das hohe Niveau eben dieser Forschung der angestrebte Anspruch bleiben. Man mag sich fragen, ob dafür im vorliegenden Fall von den Verantwortlichen stets alles getan wurde. Eine enge Betreuung und ein kritisches Lektorat hätten bestimmt die mehrfach auffallenden Rechtschreib- und Ausdrucksfehler verhindert, ebenso wie die unleserlichen und letztlich unnötigen Abbildungen der Galileo-Drucke von 1638 (Hoffmann, 140, 181, 207); immerhin lassen sich mehrere moderne Ausgaben, Editionen und Übersetzungen der Discorsi e dimostrazioni matematiche finden. Sicher hätten diese Lapsus mit wenigen Hinweisen verhindert und die Artikel insgesamt sogar theoretisch-methodisch noch enger miteinander abgestimmt werden können.
So bleibt festzuhalten, dass hier ein wichtiges und anspruchsvolles Thema auf Basis gut gewählter, aussagekräftiger Quellen und mit sehr vielversprechenden Ansätzen angegangen wurde, die Umsetzung jedoch nicht gut gelungen ist. Die Rezensentin möchte daher mit dem Gedanken schließen, dass das seit langem überhitzte Modell des "publish or perish" nicht nur individuelles Potential verhindert, sondern vor allem die Geschichtswissenschaft als Ganzes erodiert. Es bleibt zu hoffen, dass auf die Forderungen nach Entschleunigung und "Slow history" [2] bald auch Taten folgen und der wissenschaftliche Publikationsprozess mehr Reflexion und konstruktive Beratung zulässt.
Anmerkungen:
[1] Georg Stow: Richard II in Thomas Walsingham's Chronicles, in: Speculum 59 (1984), 68-102.
[2] Mary Lindemann: Slow History. The American Historical Review 126 / 1 (2021), 1-18.
Lena Vosding