Jean-Louis Biget / Sylvie Caucanas / Daniel Le Blévec et al.: Le «catharisme» en question (= Cahiers de Fanjeaux; No. 55), Toulouse: Editions Privat 2020, 448 S., ISBN 978-2-9568972-1-7, EUR 30,00
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Der 55. Band der Cahiers de Fanjeaux ist ein Beitrag zur Katharismus-Debatte, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten teilweise heftig entwickelt hat. Vier Aspekte sind zunächst anzureißen. Erstens spielt der Titel "Le «catharisme» en questions" bewusst auf den Titel des englischsprachigen Bandes "Cathars in question" an: Dadurch nimmt Ersterer Abstand von einer zugespitzten Kontroversität des Letzteren, worin einigen Forschern - insbesondere Robert Ian Moore und Mark Gregory Pegg - vorgeworfen worden war, die Existenz einer kohärenten Katharerbewegung in Südfrankreich infrage gestellt zu haben. [1] Als Reaktion darauf geht es im vorliegenden Cahier jedoch nicht um die rhetorische und polemische Grundfrage nach der Existenz der Katharer, sondern um mehrere Fragestellungen, anhand derer die modernen sowie die hochmittelalterlichen Kategorien des "catharisme" dekonstruiert werden sollen. Zweitens knüpft der Band explizit an eine französische Forschungsrichtung an, die seit 25 Jahren die mittelalterliche "Erfindung" der Häresien, d.h. deren gelehrte und institutionelle Konstruktion und ihre Instrumentalisierung, untersucht. [2] Auf diese vor allem von Monique Zerner vorangetriebene Forschungstendenz beziehen sich Michelle Fournié und Daniel Le Blévec im Vorwort, die als institutionelle Mitherausgeber des Tagungsbands auch die letzten zwei Aspekte betonen: Sie begrüßen - drittens - zwar die Erneuerung der Fragestellungen über die Katharer, warnen jedoch vor einer allzu oberflächlichen Betrachtung der vorherigen Studien. Implizit, aber klar, nehmen Fournier und Le Blévec von diesem Vorwurf die Untersuchungen Jean-Louis Bigets aus, dessen wissenschaftliche Arbeit und, insbesondere, dessen globalen Ansatz in der Erforschung der religiösen Dimension sie loben. Denn - viertens - stellt dieser Cahier gleichzeitig eine Ehrerbietung an Biget dar [3], der für den Band zwei Beiträge über zentrale Themen sowie die programmatische Einleitung verfasst hat.
Bigets Einführung besteht vor allem aus einem Fragestellungskomplex, wodurch er das Thema problematisiert und gleichzeitig seine eigene Deutung vorstellt. Die katharische, von der dualistischen Lehre geprägte Identität der religiösen Dissidenz in Südfrankreich sei ein vielschichtiges Konstrukt, das man hinterfragen solle. Die dortigen Häretiker könnten überhaupt nicht auf eine kohärente und in Europa verbreitete Katharerbewegung zurückgeführt werden, sondern seien als lokale Reaktion auf die institutionellen und spirituellen Änderungsprozesse der Amtskirche im 12. und 13. Jahrhundert entstanden.
Biget exemplifiziert seine Position zunächst im ersten Teil des Bandes, in dem die Leitfrage nach der Entstehung der Dissidenz und deren Darstellung ("Quelles origines?") aufgeworfen wird. In seinem ersten Beitrag vertieft er noch einmal die Überlieferung und die Inhalte der umstrittenen Charte de Niquinta, die von einer frühen Versammlung der Katharer in Südfrankreich - dem Konzil von Saint-Félix de Caraman (1167) - berichtet. Es gebe gute Gründe, diese zentrale Quelle zur Entstehung der katharischen Kirche in Südfrankreich als eine Fälschung aus dem 17. Jahrhundert zu betrachten, die aus dem Milieu der Toulousaner Gelehrten stamme. In diesem Teil des Bandes wird auch die Aussagekraft weiterer Quellen überprüft: Während Alessia Trivellone das aus den Traktaten gegen die Häretiker resultierende Bild der katharischen Kirchen in Italien infrage stellt, neigt Edina Bozoky aus einer traditionelleren Perspektive zu einer Bestätigung der Entstehungszusammenhänge und Verwendungsweisen eines der seltenen, angeblich katharischen Texte: der Interrogatio Iohannis. Zwei wichtige Beiträge, mit denen der erste Teil schließt, untersuchen einige Grundsätze, durch die im Hochmittelalter die häretische Spaltung der Kirche konzipiert wurde: Dominique Iogna-Prat skizziert prägnant die Beziehung zwischen dem Gedanken der Kircheneinheit und der Definition der Häresie. Ausgehend von der Exegese einiger Stellen des Johannisevangeliums analysiert Uwe Brunn die Dichotomie zwischen filii Dei und filii diaboli.
Im zweiten Teil geht es um Antworten auf die Leitfrage nach der Konstruktion Okzitaniens als häretischer Region ("Comment s'élabore l'image d'une Occitanie hérétique?"). Robert Ian Moore bettet die okzitanische Dissidenz in die Entwicklung der kirchlichen Institutionen und der lokalen und überregionalen Machtverhältnisse im 12. Jahrhundert ein. Laut Héléne Debax ist die feindliche Haltung der päpstlichen Legaten gegenüber den Grafen von Toulouse auch darauf zurückzuführen, dass sie wohl selbst aus adligen Gruppen stammten, die mit den Raimundinern um die regionale Hegemonie rangen. Emmanuel Bain deutet den De fide catholica Alanus' von Lille als ein komplexes, nicht spezifisch gegen die kaum explizit erwähnten Katharer gerichtetes Werk, das mittels der scholastischen Widerlegung von häretischen Grundsätzen einen universellen theologischen Anspruch erhob und gleichzeitig im Rahmen einer höfisch-literarischen Kommunikation mit dem Grafen Wilhelm VIII. von Montpellier entstand.
Eine Antwort auf die Leitfrage nach der Realität der "Dissidenzen" vor dem 1209 ausgerufenen Albigenserkreuzzug ("Les dissidences, quelle réalité avant la croisade?") sucht im dritten Teil Guy Lobrichon. Er strebt nach einem Deutungsschlüssel der vielfältigen religiösen Erfahrungen des 11. und 12. Jahrhunderts, die sich auf das evangelisch-apostolische Vorbild beriefen. Anschließend stellt Biget seinen zweiten Forschungsbeitrag im Band vor, in dem er die religiöse Erfahrung der sogenannten "bons hommes" und "bonnes dames" in Okzitanien vor 1209 untersucht. Trotz der Hürden der Quellenlage skizziert Biget eine lokale und sozial gut integrierte Form am Evangelium orientierter Religiosität, die sich angesichts der Entwicklung der Amtskirche radikalisierte. Der Kreuzzug als Religionskrieg verzerrte diese religiöse Erfahrung, und verhinderte die Begegnung mit der Predigttätigkeit Dominikus' von Caleruega und Diegos von Osma. Deren Tätigkeit in Südfrankreich widmet Bernard Hodel den letzten Beitrag dieses Teils: Er überprüft die geläufige Darstellung Dominiks und Diegos in dieser Phase und zeigt chronologische Unstimmigkeiten sowie nicht klar definierte Beziehungen auf.
Im letzten, den Entwicklungen der Häresie infolge des Kreuzzugs gewidmeten Teil ("Après la croisade, quel devenir de l'hérésie?") beschäftigt sich Jacques Paul mit den Glaubensätzen der Häretiker. Zwar offenbaren viele Zeugenaussagen vor den Inquisitoren nur ein Streben nach dem eigenen Seelenheil und keine Aneignung von häretischen Lehren, doch beweisen einige von ihnen ausführliche Kenntnisse über wichtige Dogmen. Paul analysiert insbesondere den Ausnahmefall des einfachen Gläubigen Pierre Garcias du Bourguet Nau, anhand dessen der Forscher eher eine traditionelle Darstellung des Katharismus bestätigt. Dem Ansatz Jacques Pauls kann man den von Jean-Paul Rehr entgegenstellen: Anhand der in der Toulouser Stadtbibliothek aufbewahrten Handschrift 609, die eine wichtige, infolge der Ermittlung der Inquisitoren 1245-1246 entstandene Sammlung von Zeugenaussagen beinhaltet, plädiert er für eine systematische Untersuchung, die auch dank des Analysepotentials einer von Rehr erstellten digitalen Edition und dank des Vergleichs mit weiteren, bisher vernachlässigten Urkunden die geläufige "katharische" Interpretation infrage stellt.
Auf diese Aspekte weist zwar das Fazit von André Vauchez hin, aber es ist der noch zum vierten Teil gehörende Aufsatz von Mark Gregory Pegg, der den Leitbeitrag des Bandes darstellt. Pegg ist der einzige, der sich auf die vorherige Debatte vor allem mit Peter Biller und John Arnold einlässt. Überzeugend beweist Pegg die Unhaltbarkeit des traditionellen Paradigmas des Katharismus, das nur ein langanhaltendes Konstrukt des 19. Jahrhunderts sei, und zeigt zugleich, wie die Abkehr von diesem Paradigma neue Forschungsfelder eröffnet: Untersucht werden soll die Transformation der Christenheit zwischen 12. und 13. Jahrhundert, von einer Welt, in der die Häretiker keine historische Realität waren, zu einer, in der sie sich tatsächlich selbst als religiöse Abweichler definierten. Die feinen Überlegungen Peggs machen jedoch direkt vor einem weiteren, über die Katharismus-Debatte hinaus erforderlichen Schritt halt: Die hochmittelalterlichen Prozesse der Exklusion brauchen ein neues konstruktivistisches Erklärungsmodell - komplexer als das der persecuting society von Moore -, das auch und vor allem das Streben nach der Teilhabe neuer, aufsteigender sozialer Gruppen an den kirchlichen und gemeinschaftlichen Institutionen und die daraus resultierende Anerkennungsdialektik stärker berücksichtigen sollte.
Anmerkungen:
[1] Antonio Sennis (ed.): Cathars in Question, Woodbridge u.a. 2016 (Heresy and Inquisition in the Middle Ages; 4), siehe insbesondere die Beiträge von John H. Arnold und Peter Biller.
[2] Vgl. Monique Zerner: Inventer l'hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l'Inquisition, Nizza 1998. Monique Zerner (éd.), L'histoire du catharisme en discussion. Le "concile" de Saint-Félix (1167), Nizza 2001.
[3] Vgl. auch den jüngst erschienenen Band gesammelter Aufsätze von Jean-Louis Biget: Eglise, dissidences et société dans l'Occitanie médiévale, éd. p. Julien Théry, Lyon / Avignon 2020.
Eugenio Riversi