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Oliver Rathkolb: Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler , Wien: Molden Verlag 2020, 352 S., ISBN 978-3-2221-5058-6, EUR 32,00
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Rezension von:
Johannes Meerwald
Frankfurt/M.
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Johannes Meerwald: Rezension von: Oliver Rathkolb: Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler , Wien: Molden Verlag 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36474.html


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Oliver Rathkolb: Schirach

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Nimmt man Oliver Rathkolbs jüngstes Werk über Baldur von Schirach zur Hand, sticht zunächst die stolze Bebilderung des Bandes ins Auge. Mit seinen kapiteleinleitenden Sequenzbildern, Quellendrucken und zahllosen Fotografien kommt der Band beinahe wie ein Ausstellungskatalog daher. Bereits vor der Lektüre wird dem Leser vermittelt, dass Hitlers "Kronprinz" im NS-Staat ein schillerndes Leben führte. "Baldur von Schirach war im 'Dritten Reich' allgegenwärtig" (13) heißt es dementsprechend bereits zu Beginn des ersten Kapitels. Auch aus dem innersten Kreis um Hitler war er nicht wegzudenken - trotzdem galt seine Rolle im NS-Staat unter Fachleuten bisher als nur wenig bekannt. Das Bild dominierten Schriften seiner Ehefrau Henriette oder seines Sohnes Richard von Schirach. [1] Eine biografische Studie von Michael Wortmann aus dem Jahre 1982 nahm vor allem Schirachs Funktion als Reichsjugendführer in den Blick. [2] 2020 erschien die mit Spannung erwartete neue Schirach-Biografie. Der Wiener Historiker Oliver Rathkolb hat sich nicht weniger zum Ziel gesetzt, als die Frage nach der Schuld des häufig unterschätzten Politikers an den nationalsozialistischen Verbrechen neu zu stellen.

Der Verfasser verfolgt einen gattungstypischen Leitfaden. So beginnt die Erzählung, nach einer kurzen Einleitung, in Weimar, Baldur von Schirachs Heimatstadt. Rathkolb legt dar, dass Schirach, 1907 geboren, tief vom elitären Selbstverständnis seiner amerikanischen Mutter und seines adeligen Vaters geprägt war. Im deutschnational-konservativen Umfeld wurzelte, so konstatiert der Autor, seine Ablehnung der Weimarer Demokratie ebenso wie sein Antisemitismus. In der thüringischen Stadt traf er Mitte der 1920er Jahre auch wiederholt auf Adolf Hitler, der sich schon früh dem völkisch geprägten Großbürgertum anbiederte und im Zuge dieses Schulterschlusses auch bei den Schirachs zu Tische saß. 1925 trat Baldur von Schirach, begeistert von Hitler, nicht nur der NSDAP, sondern auch der SA bei.

Daraufhin skizziert der Autor eine steile Parteikarriere: Studium in München auf Einladung Hitlers und leitende Position im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund. 1931 folgte, nachdem er in München durch die Mobilisierung der Studentenschaft auf sich aufmerksam gemacht hatte, die Ernennung zum Reichsjugendführer. Seine Hochzeit mit Henriette Hoffmann, Hitlers Patenkind, brachte ihn noch näher ins persönliche Umfeld des "Führers". 1932 wurde er Reichstagsabgeordneter der NSDAP. Rathkolb zeigt in diesem Abschnitt, dass Schirach geschickt die "logistische Nähe zu den Schaltstellen der politischen Macht" (82) suchte und schon in seiner frühen Laufbahn politische Kontrahenten ausmanövrierte. Den Führermythos formte er, so ist zu lesen, bereits vor der Machtübernahme maßgeblich mit.

Um Schirachs Funktion im NS-Staat zu beleuchten, konzentriert sich Rathkolb zunächst auf die Hitlerjugend. Schlüssig legt der Autor dar, dass der Reichsjugendführer vor allem sein Medienverständnis einzusetzen wusste. Er war, dies zeigt der Autor mitunter auch visuell, vor allem Chefpropagandist der Organisation. Mit eigens verfassten Gedichten und Liedtexten ("Vorwärts, Vorwärts") sowie dem umfänglichen Einsatz auch von Bild- und Tonmaterial ("Hitlerjunge Quex") bestimmte er die Indoktrination der Kinder und Jugendlichen im Deutschen Reich maßgeblich.

Doch das Hauptaugenmerk der Biografie liegt in der Zeit nach 1940. Die Versetzung nach Wien sei zunächst als eine "politische Zurücksetzung" (127) zu verstehen: Schirach wurde 1940 nicht nur an "den Rand des Reiches", sondern auch aus dem Amt des Reichsjugendführers verdrängt. Trotz alledem entsprach der neue Posten als Gauleiter dem herrschaftlichen Selbstverständnis Schirachs, der (fälschlich) damit prahlte, am Schreibtisch des Fürsten von Metternich seines Amtes zu walten. In der ehemaligen österreichischen Hauptstadt war er als Reichsstatthalter an der Enteignung und Deportation der jüdischen Bevölkerung federführend beteiligt: Stadt- und Vernichtungspolitik gingen in der Metropole Hand in Hand. Kundig widerlegt Rathkolb seine nach 1945 vorgebrachte Apologetik und zeigt auf, dass der Gauleiter spätestens seit 1942 über die systematische Judenvernichtung im Bilde war. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, doch legt der Autor zum Beweis erstmals das Originalmanuskript einer Rede des Gauleiters Arthur Greiser vor.

Darüber hinaus interpretiert Rathkolb Schirachs Dienst in Wien als Misserfolg: Der von ihm orchestrierte Europäische Jugendkongress, sowie die "kulturpolitischen Initiativen" (196) des Gauleiters wurden in Berlin argwöhnisch beäugt. Der junge Gauleiter galt Goebbels schon bald als "verwienert" (211) und stolperte letztendlich auch über Hitlers persönliches Ressentiment gegen die österreichische Metropole. Dass seine Ehefrau Henriette Hitler im Juni 1943 auf dem Berghof auf die Deportationen niederländischer Jüdinnen ansprach, beschleunigte den Bruch zwischen Schirach und dem "Führer" nur noch. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 erkennt Rathkolb eine kurzzeitige Rehabilitierung des Protagonisten vor Hitler und Goebbels, die seine Entschlossenheit bis in die letzte Phase des Krieges honorierten. Der Autor bespricht diese Wendung nur knapp - hier wäre eine detailliertere Quellenanalyse wünschenswert gewesen, auch über Goebbels' Tagebücher hinaus. Gerade Schirachs inszenierter Bruch mit dem Adel wirft viele Fragen auf, die der Autor jedoch unbeantwortet lässt.

So schwenkt das Buch über auf Schirachs wenig ruhmreiche Flucht aus Wien und die amerikanische Gefangenschaft. Hervorzuheben ist, dass der Verfasser dabei vor allem auch die fatalen Folgen von Schirachs Wirken ins Auge fasst. Rathkolb skizziert zunächst die heftigen Verluste der Hitlerjugend sowie Schirachs Beteiligung am Raub des Eigentums verfolgter und ermordeter Jüdinnen und Juden, bevor er sich seiner Verteidigungsstrategie in Nürnberg und den wenig erfolgreichen Rehabilitierungsversuchen nach der Spandauer Haft widmet. Bereits zuvor konstatiert der Autor, dass die Kulturpolitik des Gauleiters in Wien von Zeitgenossen häufig als Gegenpol zu Berlin fehlinterpretiert wurde und damit zum österreichischen Opfermythos der Nachkriegszeit beigetragen habe.

Rathkolb legt mit seiner jüngst erschienen Biografie ein lesenswertes Werk vor, in dem nicht nur Schirach selbst, sondern auch sein privates Umfeld näher untersucht werden. Der Protagonist tritt als junger machthungriger Karrierist in Erscheinung, der sich vehement den Weg in die nationalsozialistische Elite bahnte. Zugleich präsentiert er Schirach als vermeintlich widersprüchlichen Charakter, in dessen Sprachgebrauch Goethe nicht vom menschenverachtenden und rassistischen Vokabular ("judenrein", "tschechenfrei", 183) der Nationalsozialisten zu trennen war. So entsteht ein nuanciertes und forschungsnahes Porträt eines Adeligen der "Kriegsjugendgeneration" [3], der trotz kulturpolitischer und transnationaler Ambitionen auch an der Peripherie des Reiches willfährig die NS-Politik umzusetzen wusste und die Deportationen der Wiener Jüdinnen und Juden als seinen "Beitrag zur europäischen Kultur" (145) verstand. Die Biografie besticht dabei vor allem durch ihren Akzent auf Schirachs Zeit in Wien, womit sie die bestehende Literatur um einen wichtigen Baustein ergänzt. Rathkolbs Werk eröffnet auch Perspektiven für die biografische Täterforschung, in der die Gauleiter noch immer eine Nebenrolle spielen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Henriette von Schirach: Der Preis der Herrlichkeit. Erfahrene Zeitgeschichte, erweiterte Neuaufl. München 2016; Richard von Schirach: Der Schatten meines Vaters, München 2011.

[2] Vgl. Michael Wortmann: Baldur von Schirach. Hitlers Jugendführer, Köln 1982.

[3] Vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903?1989, München 2016, 53?55.

Johannes Meerwald