David G. Marwell: Mengele. Biographie eines Massenmörders. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, 428 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4277-5, EUR 28,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hannes Liebrandt / Michele Barricelli (Hgg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019
Rywka Lipszyc: Das Tagebuch der Rywka Lipszyc, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2015
David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District, Jerusalem: Yad Vashem 2013
Imke Hansen: "Nie wieder Auschwitz!". Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945-1955, Göttingen: Wallstein 2015
Elizabeth Harvey / Johannes Hürter / Maiken Umbach / Andreas Wirsching (eds.): Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2019
Oliver Rathkolb: Schirach. Eine Generation zwischen Goethe und Hitler , Wien: Molden Verlag 2020
Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte, Berlin: Aufbau-Verlag 2022
Charles Dick: Builders of the Third Reich. The Organisation Todt and Nazi Forced Labour, London: Bloomsbury 2022
Als gewissenloser KZ-Arzt und "Maßstab des Bösen" (12) prägte Josef Mengele die Geschichtsschreibung des Holocaust. Vergleichbare Beschreibungen finden sich nahezu in sämtlichen Werken zu Mengele und das freilich nicht ohne Grund. Zur kaum überschaubaren Menge an Beiträgen über den SS-Mann, von medizinhistorischen Analysen bis hin zum historischen Roman, gesellen sich nicht wenige biografische Schriften. [1] 2021 erschien "Mengele. Biografie eines Massenmörders", verfasst vom ehemaligen Direktor des Museum of Jewish Heritage und Berlin Document Centers, David G. Marwell. Gleich zu Beginn der Lektüre wird deutlich, was diese Arbeit von anderen unterscheidet: Marwells enge Verstrickung in die Jagd auf den "Todesengel von Auschwitz".
Die Studie eröffnet mit einer zentralen Theorie der Täterforschung: Der Autor ordnet Mengele in die sogenannte Kriegsjugendgeneration ein und zeigt ohne Umschweife den künftigen Weg seines Protagonisten auf. 1911 in Günzburg geboren, wuchs Mengele in einem konservativen, gut situierten Umfeld auf. Sein Vater war Fabrikbesitzer und wichtiger Akteur im wirtschaftlichen Leben der bayerisch-schwäbischen Kleinstadt. Josef übernahm den väterlichen Betrieb nicht, sondern ging 1930 zum Studium der Medizin nach München. Bereits vor der Machtübernahme kam er in Berührung mit dem rechten politischen Spektrum. Fachlich prägte Mengele, so stellt Marwell heraus, seine Promotion bei Theodor Mollison. Sie ebnete den Weg in die Anthropologie und Rassenkunde. Als weiteren Mentor benennt er Otmar Freiherr von Verschuer, Mengeles Chef am Frankfurter Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene. Mit mehreren einschlägigen Studien und einer zweiten Promotion, in der er Kinder mit angeborenen Gaumen- und Lippenspalten untersuchte, entwickelte sich Mengele in Frankfurt zu einem "junge[n] Wissenschaftler mit aussichtsreicher Zukunft" (46). 1938 erfolgte der Eintritt in die NSDAP und SS.
Nach mehrjährigem Einsatz an der Front bei der SS-Division "Wiking" kam Mengele im Mai 1943 nach Auschwitz. Als Lagerarzt spielte er dort eine tragende Rolle, leitete Selektionen im Lagerteil Birkenau und schickte Hunderttausende in den Tod. Gleichzeitig betrieb er umfassende medizinische und erbbiologische Forschungen an aus rassistischen Gründen verschleppten Häftlingen. Diese Humanexperimente versteht der Biograf als Beiträge zur Forschung, die weniger "praktischen Zwecken", sondern seiner eigenen Karriere dienen sollten (82). Auschwitz habe dem SS-Arzt dafür, so Marwell, einen geeigneten Nährboden geboten, insbesondere aufgrund der "schiere[n] Zahl der Menschen, die das Lager durchliefen" (97). Noch zu Zeiten seiner Untaten erlangte er traurige Berühmtheit und wurde zum Sinnbild der in Auschwitz begangenen Menschheitsverbrechen. Auch wenn in diesem Abschnitt wenig Neues über Mengele und Auschwitz zu erfahren ist, gelingt es dem kenntnisreichen Verfasser, komplexe historische wie medizinische Sachverhalte klar zu skizzieren, ohne dabei ihre Opfer aus dem Auge zu verlieren.
Wie in jeder Lebensgeschichte eines NS-Täters markiert das Kriegsende auch bei Mengele eine Zäsur. Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft versteckte sich Mengele, nun unter falscher Identität, bei einer Bauernfamilie im Landkreis Rosenheim. Mit entscheidender Hilfe seiner Ehefrau Irene und der Günzburger Familie, die ihn für tot erklärt hatten, floh Mengele 1949 über Italien nach Argentinien. In Südamerika knüpfte er Kontakte zu anderen NS-Verbrechern und konnte wirtschaftlich, unter anderem in der Pharmabranche, Fuß fassen. Erst in den späten 1950er Jahren leiteten bundesdeutsche Ermittlungsbehörden ein Verfahren gegen Mengele ein, das in einem Auslieferungsersuchen an die argentinische Regierung mündete. Vermutlich gewarnt durch seine Familie, ging Mengele nach kurzem Aufenthalt in Paraguay 1960 nach Brasilien. Ausschlaggebend dafür sei die Entführung Eichmanns durch den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad gewesen.
An dieser Stelle endet die biografische Perspektive auf Josef Mengele, denn Marwells Studie umfasst zwei Teile. Die ersten drei Abschnitte behandeln Mengeles Geschichte bis 1945 und seine Flucht. Kapitel 4 hingegen, immerhin mehr als ein Drittel der Untersuchung, beleuchtet in vor allem Linie die multinationalen Anstrengungen, den ehemaligen SS-Mann zu ergreifen oder seinen Tod zu verifizieren. Hier verwebt sich Marwells Biografie mit jener des Protagonisten: Nach erfolglosen israelischen Geheimdienstaktionen und halbherzigen bundesdeutschen, trieben die US-Amerikaner die Strafverfolgung Mengeles Mitte der 1980er Jahre entscheidend voran. Marwell, der als Historiker in Diensten des US-Justizministeriums und dort des Office of Special Investigations stand, war an diesem Unterfangen unmittelbar beteiligt. Als das Ermittlerteam im Juni 1985 in São Paulo auf einen Leichnam des mutmaßlichen Mengele stieß, hätten es wohl nur wenige für möglich gehalten, dass es weitere sieben Jahre und verschiedene forensische Verfahren benötigen würde, um den Leichnam als den des NS-Arztes zu identifizieren. Marwells minutiöse Beschreibung des langwierigen Prozesses ist aufgrund der eröffneten subjektiven Erzählebene einzigartig. Dennoch bricht sie mit dem voranstehenden Text, verwandelt diesen in eine Ereignisgeschichte im Kriminalkontext. Mengeles Biografie, über die es gewiss noch einiges zu erzählen gegeben hätte, muss einer, wie der Autor selbst schreibt, "Biografie der Knochen" weichen.
Die Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Täterforschung. Trotz Mengeles zentraler Rolle im Holocaust und seiner Verbrechen, verzichtet Marwell auf Dämonisierungen. Viel mehr gelingt es ihm, Mengele in den größeren zeitlichen Kontext einzuordnen. Er kommt zu dem Schluss: "Mengele und seine Forschungen als anomal und bizarr einzustufen, ist vielleicht bequemer als zu verstehen, dass er das Produkt - und Versprechen - eines viel größeren Systems des Denkens und Handelns war." (129) Ungeachtet dieser treffsicheren Analyse, schreibt Marwell Mengeles Lebensgeschichte nicht neu. Es ist die eigene Perspektive des Verfassers im letzten Buchdrittel, die das Werk besonders macht und einen weiteren Baustein zur Geschichte der Jagd auf Mengele liefert.
Anmerkung:
[1] Vgl. Gerald L. Posner / John Ware: Mengele. The Complete Story, London 1986; Zdenek Zofka: Der KZ-Arzt Josef Mengele, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), 245-267; Ulrich Völklein: Josef Mengele. Der Arzt von Auschwitz, Göttingen 2000; Sven Keller: Günzburg und der Fall Josef Mengele. Die Heimatstadt und die Jagd nach dem NS-Verbrecher, München 2003.
Johannes Meerwald