Michael Stolberg (Hg.): Körper-Bilder in der Frühen Neuzeit. Kunst-, medizin- und mediengeschichtliche Perspektiven (= Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 107), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, VIII + 354 S., 100 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-073479-9, EUR 89,95
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Michael Stolberg: Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009
Wie viele Abbildungen von Körpern oder Körperteilen haben Sie heute schon gesehen? Vermutlich zu viele, um eine präzise Antwort geben zu können. In Zeiten, in denen die physische Welt ins Metaversum übersetzt wird, wo jeder User einen digitalen Zwilling von sich erhält, sind visuelle Darstellungen von Körpern omnipräsent. In der Frühen Neuzeit fehlten zwar die notwendigen technischen Voraussetzungen für derartige virtuelle Replikationen, aber die Anzahl und Vielfalt an Körperbildern ließ sich bereits sehen. Während der Renaissance nahmen Körperdarstellungen nicht nur quantitativ zu, sondern auch neue Formen an. Entsprechend haben sich die Kunstgeschichte, die Medizingeschichte und zunehmend die Kulturgeschichte jeweils ausgiebig damit befasst. [1] Das hier anzuzeigende Buch zu Körperbildern in der Frühen Neuzeit regt nun einen stärkeren Austausch dieser Forschungsfelder an, wodurch es sich ebenso erkenntnis- wie facettenreich gestaltet.
Der Sammelband geht auf ein Kolloquium zurück, das Michael Stolberg im Frühjahr 2019 als Senior Fellow am Historischen Kolleg in München veranstaltete. Als Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg ist der Herausgeber ein ausgewiesener Experte für Medizin- und Körpergeschichte. In diesem Band schlägt Stolberg eine Brücke zwischen der Medizingeschichte und der Kunst- sowie Kulturgeschichte. Wobei der Untertitel Letztere bescheidener lediglich als Mediengeschichte bezeichnet. Die 14 Beiträge eröffnen ein durchaus breites Panorama mit unterschiedlichen Perspektiven und Herangehensweisen.
Ziel des Bandes ist es, die Disziplinen übergreifende Diskussion zu Körperbildern anzuregen und fruchtbar zu machen. Wie schon in einem zeitlich und thematisch engeren Zuschnitt zu Darstellungen kranker Körper in Italien konstatiert wurde, ist der diesbezügliche Austausch zwischen Kunst- und Kulturhistorikerinnen und Kulturhistorikern gewinnbringend. [2] Dass dabei nicht nur technische und künstlerische Aspekte oder historische Kontexte, sondern mithin medizingeschichtliches Wissen eine wichtige Rolle spielen, zeigt der vorliegende Band exemplarisch.
Damit ist nicht gemeint - und Stolberg hat schon zuvor dezidiert davon abgeraten [3] -, dass anhand von historischen Bildern retrospektive Diagnosen zu möglichen Krankheiten der abgebildeten Personen gewagt werden sollten. Diese seien entweder "hochgradig spekulativ" oder "für das historische Verständnis des Bildes [...] völlig irrelevant". (4) Die um Wirklichkeitstreue bemühte bildende Kunst hat zwar in der Renaissance zu einem neuen Grad an Präzision in der Darstellung von Krankheiten und Missbildungen geführt, aber abgesehen von Kropf, Pest und Syphilis finden sich in der Frühen Neuzeit Stolberg zufolge "auffällig wenig Gemälde mit den klaren, typischen Zeichen einer bestimmten Erkrankung". (3) Während die Gründe dafür nicht weiter eruiert werden, geht es Stolberg primär darum, dass Medizin- und Kulturhistorikerinnen und Kulturhistoriker künstlerisches Bildmaterial nicht lediglich als Beiwerk zu Illustrationszwecken heranziehen, sondern als Quellen an sich behandeln sollten. Dieses Plädoyer würde ich unterstützen und es grundsätzlich gerne auf jegliches historische Bildmaterial angewendet sehen, das oft nur zur visuellen Dekoration dient.
Umgekehrt wird auch die kunstgeschichtliche Bildanalyse präziser, wenn man den (medizin)historischen Kontext versteht. Beispielsweise ergeben die wie Fußheizungen wirkenden kleinen Öfen in der niederländischen Genremalerei erst vor dem Konzept der Gebärmuttererstickung (suffocatio matricis) Sinn. Der zeitgenössischen Annahme zufolge drückte die Gebärmutter auf das Zwerchfell und um dem abzuhelfen, lockte man mit dem wohlriechenden Rauch von auf diesen 'Öfen' verbrannten Kräutern die Gebärmutter wieder an ihren richtigen Platz zurück.
Im Folgenden kann hier nicht auf jeden Beitrag vertieft eingegangen werden, vielmehr sei versucht, durch Gemeinsamkeiten bestimmte thematische und methodische Schwerpunkte herauszuschälen und an einzelnen Beispielen das breite Spektrum zu umreißen. Während der Herausgeber auf eine explizite Gliederung verzichtet, lassen sich folgende Kategorien je nach Fokus 1) thematisch, 2) quellenbasiert oder 3) analytisch erkennen.
Auf der inhaltlichen Ebene häufen sich zum einen Studien zu Darstellungsformen von Krankheiten (John Henderson zur Syphilis, Valentina Zivković zur Pest, Thomas Schnalke unter anderem zu einem "Speckgeschwulst" genannten Tumor) oder von körperlichen Deformierungen (Stavros Vlachos zu Körperdeformierungen als Anzeichen für das Böse, Jasmin Mersmann zu Kastraten, Alexander Pyrges zu Korpulenz und M A Katritzky zu heute als siamesische Zwillinge bekannten Doppelfehlbildungen). Sie greifen also jeweils eine somatisch sichtbare Sonderheit auf und inspizieren deren Visualisierungsformen. Zum anderen untersuchen mehrere Beiträge anatomische Visualisierungstechniken (Lee Chi-Hun vergleicht chinesische und europäische Anatomiebilder, Sebastian Pranghofer die Darstellungen des Lymphsystems, Domenico Bertoloni Meli die Textur bei Andreas Vesal und Govert Bidloo, Schnalke diverse Krankheiten).
Auf der quellentechnischen Ebene überwiegen die Beiträge, die entweder mit (höfischer oder klerikaler) Kunst oder mit anatomischen Tafeln arbeiten. Darüber hinaus werden aber eine ganze Palette weiterer Quellen herangezogen: Freskenbilder bei Zivković, Kirchenskulpturen bei Volker Hiller und Christiane Hessler, Wachsfiguren bei Thomas Fischbacher, Lee und Pranghofer. Die ausgefallenste Quelle stellen die Gedächtniskuchen dar, die Katritzky präsentiert und auf denen die mittelalterlichen Biddenden Maids, zwei aneinandergewachsene Schwestern, abgebildet sein sollen.
Auf der analytischen Ebene gibt es neben den oben erwähnten Fragestellungen einige Beiträge, die sich über die Darstellungsformen hinaus mit den Implikationen physiologischer 'Abnormalitäten' beschäftigen. Fischbacher zeigt, inwiefern körperlich deformierte Adlige Kurfürst oder König werden konnten, was durchaus vorkam. Und Brendan Röder analysiert eine ähnliche Frage im klerikalen Kontext, nämlich inwiefern Priester physisch unversehrt sein mussten, um ihr Amt ausfüllen zu können. Pranghofer und Bertoloni Meli untersuchen an ihren jeweiligen Gegenständen, dem Lymphsystem bzw. der Textur in anatomischen Tafeln, die reziproke Beeinflussung von Wissensstand und Visualisierungstechniken.
Der Band versammelt eine Reihe luzider Fallbeispiele, die eine gegenseitige Stimulierung von kunst-, kultur- und medizinhistorischen Ansätzen nahelegen. Die einzelnen Beiträge haben diesen disziplinären Brückenschlag allerdings erst in unterschiedlich starkem Ausmaß selbst vollzogen. Wie der Untertitel mit Hinweis auf die verschiedenen Perspektiven andeutet, gibt der Band einen Überblick über diverse Aspekte der bildlichen Darstellung von Körperlichkeit. Dies ist ein wichtiger erster Schritt für eine zu wünschende methodische Konzeptualisierung des Phänomens, die vorerst noch aussteht.
Dieses Monitum soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sammelband mithin sehr originelle Beiträge enthält und nicht zuletzt durch die äußerst reiche Bebilderung eine wortwörtlich anschauliche Lektüre bietet. Sie sei einem körper-, kunst- und medizinafinen Publikum wie auch generell an der Frühen Neuzeit Interessierten nachdrücklich ans Herz gelegt.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa Victor Stoichita: Des corps. Anatomies, Défenses, Fantasmes, Genf 2019; Alain Corbin / Jean-Jacques Courtine / Georges Vigarello: Histoire du corps, 3 Bde., Paris 2005; Hartmut Böhme: Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, Gießen 2012.
[2] John Henderson / Frederika Jacobs / Jonathan Nelson (Hg.): Representing Infirmity. Diseased Bodies in Renaissance Italy, London / New York 2021.
[3] Michael Stolberg: Did Mona Lisa Suffer from Hypothyroidism? Visual Representations of Sickness and the Vagaries of Retrospective Diagnosis, in: Representing Infirmity. Diseased Bodies in Renaissance Italy, hg. von John Henderson / Frederika Jacobs/Jonathan Nelson, London / New York 2021, 233-245.
Vitus Huber