Rezension über:

Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, 303 S., ISBN 978-3-412-16202-3, EUR 24,90
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Rezension von:
Robert Jütte
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Robert Jütte: Rezension von: Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/4050.html


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Michael Stolberg: Homo patiens

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Roy Porters Aufruf, eine Medizingeschichte "von unten" zu schreiben, das heißt die Sicht des Patienten zu übernehmen, ist in Deutschland zwar nicht gänzlich verhallt, aber längst nicht so beachtet worden wie in der anglo-amerikanischen Forschung zur Sozialgeschichte der Medizin. Ausnahmen bestätigen die Regel. Insofern ist es zu begrüßen, dass ein im Ausland geschulter deutscher Medizinhistoriker sich der Herausforderung gestellt hat, eine vergleichende Geschichte des Patienten für die Frühe Neuzeit zu schreiben. Seine methodischen Vorüberlegungen geben den internationalen Forschungsstand wieder, was leider keine Selbstverständlichkeit im deutschen Schrifttum zur Medizingeschichte ist. Bevorzugte Quellen sind Briefe von Kranken aus Deutschland, England, den Niederlanden und der Schweiz aus dem Zeitraum 1500 bis 1800.

Stolberg beginnt mit einem Überblick über allgemeine Aspekte der Erfahrung und Deutung von Krankheit in der Frühen Neuzeit, um sich dann in einem zweiten Teil mit konkreten Deutungsmustern zu befassen. Im dritten und letzten Teil wird das komplexe Verhältnis von subjektiver Körper- und Krankheitserfahrung einerseits und dem "herrschenden" medizinischen Diskurs andererseits an zwei Einzelbeispielen aufgezeigt, nämlich an den so genannten "Nervenleiden" und an der "Onanie" - beides "Modekrankheiten" des 18. Jahrhunderts.

"In der That trieb ich es [das Selbststudium, der Verfasser] zu weit, und habe mir endlich durch Unmäßigkeit im Studium seit drei Jahren eine Nervenschwäche zugezogen, die mich zu aller gelehrten Beschäftigung schlechterdings unfähig macht", schrieb im März 1774 der jüdische Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786) an den Bibliothekar Johann Jacob Spieß (1730-1814). Die Diagnose "Nervenschwäche" würde heute kein Schulmediziner mehr stellen, dennoch gibt es weiterhin Medikamente gegen dieses Symptom, die jedoch fast alle dem Bereich der Naturmedizin zuzuordnen sind. Im 18. Jahrhundert war es dagegen üblich, eine Vielzahl von Krankheitserscheinungen auf die Nerven zurückzuführen. Sowohl Ärzte als auch Laien bedienten sich dieses Erklärungsmusters.

Wie der Würzburger Medizinhistoriker Michael Stolberg in einer faszinierenden Studie zur Geschichte der Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit nachweist, handelt es sich bei der damaligen "Modekrankheit" um ein eindrucksvolles Beispiel für den starken Einfluss, den die Kultur auf die Ausbildung und Prägung bestimmter Krankheitsphänomene hat. "Verschiedene Epochen", so Stolberg, "bringen jeweils auch Leiden hervor, die verhältnismäßig spezifisch für die betreffende Zeit und Gesellschaft sind" (218). Das Krankheitsspektrum reicht von der mittelalterlichen "Melancholie" über die frühneuzeitliche "Hysterie" hin zum modernen "Chronischen Müdigkeits-Syndrom".

Dass gerade im 18. Jahrhundert die "Nerven" zum erkenntnisleitenden Modell in der Medizin wurden, hat zum Teil wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an die bahnbrechenden Versuche, die der Göttinger Arzt und Naturforscher Albrecht von Haller (1708-1777) durchführte. Als dieser nach jahrelangen neurophysiologischen Experimenten 1753 die Reizbarkeit und Sensibilität von Muskel- und Nervenfasern entdeckte, war er davon überzeugt, die Grundkräfte des Lebendigen gefunden zu haben. Hallers Irritabilitätslehre bildete die Grundlage für ein vitalistisches Verständnis der Vorgänge im menschlichen Körper. "Dank ihrer besonderen vitalen Vermögen", so Stolberg, "gewannen gerade die Nervenfasern paradigmatischen Wert für eine neue ärztliche Sichtweise des Körpers insgesamt, die gegen mechanistische Deutungen die spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten des lebenden Organismus hervorhebt" (230). Doch das neue Konzept der Nervenleiden setzte sich nicht überall durch. Während die Oberschicht und insbesondere die Gebildeten dieses Erklärungsmuster sofort auf ihre Krankheits- und Körpererfahrung übertrugen, hielten sich in der Landbevölkerung traditionelle Vorstellungen von aufsteigenden Dämpfen ("vapeurs") und Krankheitsdämonen, die körperliche Beschwerden unterschiedlichster Art verursachten. Krankheit wurde somit weiterhin als etwas Fremdes, das dem Körper von außen zustößt, gesehen, während das neue Konzept der Nervenleiden die Krankheit in der Körpersubstanz verortete, in diesem Fall in den empfindlichsten Teilen des menschlichen Körpers.

Stolberg beschreibt nicht nur historische Phänomene, die für eine Geschichte des Patienten von zentraler Bedeutung sind, er versucht sie auch zu erklären. So ist seiner Meinung nach der "Aufstieg der Nerven" im 18. Jahrhundert Resultat eines sich damals in der Gesellschaft immer breiter machenden Gefühls der Langeweile ("ennui"), von dem insbesondere die Frauen (die zu jener Zeit die Mehrzahl der "Nervenkranken" stellten) betroffen gewesen seien. Doch greift dieser Erklärungsansatz ein wenig zu kurz, zumal auch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Männern gegen Ende des Ancien Regimes an "Nervenschwäche" litt. Man wird daher wohl eher von einem "Leiden an der Gesellschaft" sprechen können, wie es der Soziologe Hans Peter Dreitzel in seiner bekannten Studie zur Pathologie des Rollenverhaltens in der Gegenwartsgesellschaft nennt.

Als ein weiteres Beispiel für das komplexe Wechselspiel zwischen Krankheitserfahrung und herrschendem Diskurs dient Stolberg die Debatte über die Schädlichkeit der Selbstbefriedigung, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die berühmte Schrift "Onania" aus dem Jahre 1716 oder die nicht weniger bekannte Abhandlung des Schweizer Arztes Samuel-Auguste Tissots (1728-1797) über die Folgen der Selbstbefriedigung, die 1760 in Lausanne erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In der Tat gewann die medizinische Argumentation im Zeitalter der Aufklärung an Dominanz und stieß in breiten Schichten der Bevölkerung auf große Resonanz, doch sollte darüber nicht in Vergessenheit geraten, dass der moraltheologische Diskurs nicht an den Rand gedrängt war, sondern in der Beichtpraxis jener Zeit auch weiterhin eine große Rolle gespielt hat. Wenngleich über die Onanie-Debatte schon viel geschrieben worden ist, so erfährt man hier doch etwas, was in früheren Darstellungen bislang wenig beachtet worden ist. Die Anti-Masturbations-Kampagne darf nämlich als Beispiel für eine erfolgreiche Popularisierung medizinischen Wissens gelten, da es gelang, konträr laufende und tradierte Vorstellungen von einer gesundheitsförderlichen Wirkung des Samenergusses völlig in den Hintergrund zu drängen.

Was Stolbergs Buch von anderen Versuchen, Körpergeschichte zu schreiben, unterscheidet, ist nicht nur sein vermittelnder Ansatz, der zwar von einer kulturellen und historischen Kontextgebundenheit von Leiblichkeit und Krankheitserfahrung ausgeht, aber die ausschließliche Konzentration auf das konstruktive Element in der Erfahrung und Deutung des Körpers ablehnt. Die Studie besticht vor allem durch ihre unglaublich dichte Information aus "erster Hand", und das sind nun einmal Patientenbriefe. Nicht nur wurden gedruckte Korrespondenzen aus drei Jahrhunderten auf Beschreibungen von Krankheits- und Körpererfahrung hin durchgesehen, auch tausende von Patientenbriefen, die in den unterschiedlichsten Archiven in Europa aus jener Zeit überliefert sind, wurden hier erstmals ausgewertet.

Stolberg interessiert sich nicht nur für die Inhalte dieser Quellen (Formen der Krankheitsbewältigung, Deutungsschemata und so weiter), sondern er geht auch auf die narrativen Strategien, die in solchen Krankengeschichten durchscheinen, ein. Dazu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, Krankheit als traumatische Erfahrung im Lebensverlauf zu schildern und dadurch erklärbar zu machen. An einer Fülle von Beispielen wird darüber hinaus gezeigt, wie ähnlich sich bis ins 18. Jahrhundert die medizinischen Vorstellungen von Laien und Ärzten waren: Das Spektrum reicht von Erklärungsmustern wie "Temperament" über "Schärfen", die im Körper Schaden anrichten, bis hin zu "Miasmen", die man für den Ausbruch von Seuchen verantwortlich machte.

Kein Zweifel: Stolbergs Buch ist ein Meilenstein in der deutschsprachigen Medizingeschichtsschreibung, die nun endlich den "Patienten" als lohnendes Thema entdeckt zu haben scheint. Im Unterschied zu Heinrich Schipperges' Buch, das 1985 unter demselben Obertitel erschien, ist hier vom realen "homo patiens" die Rede - wenn das kein Fortschritt ist!

Robert Jütte