Matthias Armgardt / Hubertus Busche (Hgg.): Recht und Billigkeit. Zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 622 S., ISBN 978-3-16-159797-8, EUR 119,00
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Nach soziologischer Erkenntnis führt die Formalisierung von Handlungserwartungen durch schriftliche Setzung nahezu zwangsläufig zur Ausbildung informeller Strukturen, mit deren Hilfe soziale Systeme die unvorhersehbaren Herausforderungen des Alltags zu bewältigen versuchen. [1] Keine Ausnahme von dieser Regel bildet die gelehrte bzw. wissenschaftliche Rechtsprechung, die sich seit der Antike in einem Spannungsfeld zwischen dem Geltungsanspruch abstrakt formulierter Normen und der Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit bewegt. Die Frage, wie das Verhältnis von Recht und Billigkeit im Zeitverlauf beurteilt wurde, stand 2017 an der FernUniversität Hagen im Mittelpunkt einer epochenübergreifend angelegten Tagung, deren rechtswissenschaftliche und philosophische Beiträge der hier zu besprechende Band vereinigt.
Der Reigen der Aufsätze setzt thematisch mit Aristoteles ein, der in seiner Nikomachischen Ethik den Gedanken entwickelte, die Gesetzesordnung bedürfe der sensitiven Anpassung an den Einzelfall. Die Fähigkeit hierzu definierte der Philosoph als Epieikeia (Billigkeit) im Sinne einer personalen Urteilskraft, mit der sich Unzulänglichkeiten des schriftlich fixierten Rechts korrigieren ließen (Christoph Horn). In der intellektuellen Auseinandersetzung mit der "ewige[n] Kluft zwischen Regeln und deren Anwendung" (Inigo Bocken, 157) bildete der aristotelische Epieikeia-Begriff fortan einen wichtigen Bezugspunkt. Mit Cicero verstand die römische Jurisprudenz unter aequitas jedoch nicht nur eine Korrektur des Rechts, sondern ein dasselbe durchdringendes Prinzip, durch welches "das ius selbst zur aequitas constituta" werde (Benedikt Forschner, 60). Das Christentum fügte der Diskussion im Anschluss an den Apostel Paulus durch die Betonung von Barmherzigkeit und Milde einen weiteren Sinngehalt hinzu.
In Mittelalter und Neuzeit bezog sich die Diskussion folglich auf drei Bedeutungsebenen, wobei im Zeitverlauf eine sukzessive, etwa bei Melanchthon zu beobachtende Marginalisierung der aristotelischen epieikeia zugunsten einer den Gesetzen als aequitas scripta schon inhärenten Billigkeit deutlich wird. Wie Hubertus Busche aufzeigt, wandelte sich deren Funktion somit von einer correctio zu einer mitigatio legis (255). Nachdem Kant und Hegel die aequitas aus der Rechtsphilosophie verbannt hatten (Stephan Stübinger), verlor die Billigkeit im 19. Jahrhundert ihren Anker sowohl im Naturrecht als auch in philosophisch-theologischen Begründungen und erschien aufgrund der ihr immanenten Relativierung gesetzlich fixierter Orientierungssicherheit zunehmend prekär (535). Den Beiträgen Stephan Meders und Martin Hochhuths lässt sich jedoch entnehmen, dass die aequitas in der Moderne keineswegs verschwunden ist, sondern sich zu einer Positivierungsquelle fortentwickelt hat.
Diese Einverleibung der Billigkeit in die Rechtsordnung erfolgte zunächst im Zivil- und später auch im öffentlichen Recht durch zahlreiche Verhältnismäßigkeitsklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, die seit dem 19. Jahrhundert ihrerseits eine rechtsdogmatische Schematisierung bis hin zu einer "Verhältnismäßigkeit im Sinne von Bruchrechnen" (576) durchliefen, wie Hochhuth anhand von Beispielen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch aufzeigt. Dabei verbindet der Autor seine Analyse mit rechtspolitischer Kritik am Richterstaat, der mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Kosten von Gesetzgeber und Exekutive expandiere - ein "Ärgernis für jemanden, der das demokratische Gesetz ernst nimmt und darum die Gewaltenteilung geachtet sehen will". (586)
Die gehaltvollen Beiträge können an dieser Stelle nicht im Einzelnen gewürdigt werden, summieren sich jedoch zu einem gediegenen Buch, das geschichtswissenschaftlichen Analysen zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Schließlich lässt sich das Nachdenken über Billigkeit und Recht mit Inigo Bocken als "eine Übung im kreativen Umgang mit Unsicherheit" (157) begreifen. Bezüge zu aktuellen geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen (etwa: Praktiken des Entscheidens, Ambiguitätstoleranz, Normenkonkurrenz oder Wissensgeschichte) liegen folglich auf der Hand und regen dazu an, sich dem Thema aus praxeologischer Perspektive zu nähern. Immerhin ist nicht zu übersehen, dass der vorliegende Band die Leserschaft zu einer von Platon bis Derrida reichenden intellektuellen Höhenkammwanderung einlädt, an der als solcher nichts auszusetzen ist, die den richterlichen Alltag jedoch weitgehend außen vor lässt.
Genau hier wäre die Geschichtswissenschaft gefordert, epochenspezifische Routen ausfindig zu machen, über die sich in die Lebenswelt des mit richterlichen Aufgaben betrauten Personals hinabsteigen ließe. Denn sofern Rechtswissenschaft mit Andreas Voßkuhle als eine "Handlungs- und Entscheidungswissenschaft" [2] begriffen werden kann, verfügt richterliches "Normativitätserzeugungswissen" [3] über einen Handlungsbezug, bei dessen Rekonstruktion jene Ebene der "Rationalisierung und Intellektualisierung des Sozialen" [4] überschritten werden muss, auf der das Selbstbild des Rechtssystems maßgeblich beruht. Praxeologische Ansatzpunkte hierfür finden sich etwa im Beitrag von Kent D. Lerch zum englischen Recht, in dem das Billigkeitsgebot sogar zur Ausformung einer eigenen Gerichtsbarkeit in Gestalt des Court of Chancery führte, der schneller und kostengünstiger arbeitete als die Common-Law-Gerichte und deshalb zahlreiche Parteien an sich zog. Nicht erst in der Gegenwart, sondern schon in der Frühen Neuzeit wirkten Ökonomisierungsprozesse also massiv auf das Spannungsfeld von Recht und Billigkeit ein. Spezifisch vormodern waren allerdings die dadurch hervorgerufenen Konflikte zwischen den Gerichten, da deren Personal durch Sporteln an den einzelnen Verfahren verdiente, was wiederum ein Einfallstor für interessengeleitete Rechtsprechung bildete.
Diese unästhetischen ökonomischen Grundlagen zählen zu den oft übersehenen Quellen frühneuzeitlichen Misstrauens in die Justiz und sind auch bei der von Christian Thomasius ausgehenden Kritik an hirnloser Billigkeit (aequitas cerebrina) zu berücksichtigen, die Frauke A. Kurbacher vorstellt. Zudem macht ius strictum im Vergleich zur aequitas nicht nur mehr Arbeit, sondern stellt auch höhere fachliche Anforderungen an das rechtsprechende Personal - Anforderungen, denen selbst zahlreiche Obergerichte bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum zu entsprechen vermochten, weshalb man sich allerorten mit der Aktenversendung an Juristenfakultäten behelfen musste. Vor dem Hintergrund einer noch keineswegs abgeschlossenen Professionalisierung und allgegenwärtiger mikropolitischer Verflechtung von Gericht und Umwelt musste es umso wünschenswerter erscheinen, die Richter mit Montesquieu an die Kette des Gesetzgebers zu legen - ein Traum, der bekanntlich nicht in Erfüllung gegangen ist. Die spannungsreiche Geschichte von Recht und Billigkeit vermittelt somit nicht nur wichtige Einsichten in die Ausdifferenzierung des modernen Rechtssystems, sondern auch in den Wandel gesellschaftlicher Vertrauenspraktiken.
Anmerkungen:
[1] Hierzu im Anschluss an Niklas Luhmann unlängst Stefan Kühl: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen, Frankfurt am Main / New York 2020.
[2] Andreas Voßkuhle: Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, Berlin 2021, 39.
[3] Thomas Duve: Rechtsgeschichte als Geschichte von Normativitätswissen?, in: Rechtsgeschichte - Legal History 29 (2021), 41-68, hier 43.
[4] Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301, hier 296.
Tobias Schenk