Joey Rauschenberger: Die NSDAP in Heidelberg. Organisation und Personal im "Dritten Reich" (= Beiträge zur Heidelberger Stadtgeschichte; Bd. 2), Heidelberg: Mattes Verlag 2021, 217 S., ISBN 978-3-86809-176-2, EUR 18,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Frank Jacob / Cornelia Baddack / Sophia Ebert / Doreen Pöschl (Hgg.): Kurt Eisner Gefängnistagebuch, Berlin: Metropol 2016
Thorsten Holzhauser: Die "Nachfolgepartei". Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Bastian Vergnon: Die sudetendeutschen Sozialdemokraten und die bayerische SPD 1945 bis 1978, Frankfurt am Main: PL Academic Research 2017
Detlef Lehnert: Friedrich Stampfer 1874-1957. Sozialdemokratischer Publizist und Politiker: Kaiserreich - Weimar - Exil - Bundesrepublik, Berlin: Metropol 2022
Susanne Keller-Giger: Carl Kostka und die Deutschdemokratische Freiheitspartei in der Tschechoslowakei der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, Kulmbach: Verlagsbuchhandlung Sabat 2021
Jene vor über zehn Jahren durch Armin Nolzen aktualisierte, allerdings "oft leichthin vernachlässigte Binsenweisheit", dass, "[w]er von der Geschichte des 'Dritten Reiches' redet, [...] von der NSDAP nicht schweigen [darf]" [1], erhält mit der von Joey Rauschenberger vorlegten Studie erneutes Gewicht: Auf Basis seiner 2020 eingereichten Masterthesis erarbeitet er hierin akribisch das organisatorische wie auch räumliche Ausgreifen der NSDAP in Heidelberg und die personelle Zusammensetzung beziehungsweise soziale Schichtung des lokalen Parteifunktionärskorps.
Thematisch anschlussfähig ist Rauschenbergers Untersuchung an zahlreiche Forschungsstränge: So können ihm die Standardwerke zur Doppelstruktur von Staat und Partei im NS-Regime oder zur Mitglieder- und Wählerschaft der NSDAP [2], ebenso wie die vielfältigen Beiträge über die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" [3], als Literaturgrundlage dienen. Auch ist der Rückgriff auf einzelne Regional- und Lokalstudien, die teilweise schon die Ebene der Gaue, Kreisleiter, Ortsgruppen oder Blockwarte behandelt haben [4], und nicht zuletzt auf die Ergebnisse aus der Heidelberger Stadtgeschichtsschreibung für die Jahre 1933 bis 1945 [5], möglich. Doch schafft der Autor einen eigenen Ansatz und rückt unter der Bilanzierung, dass "Studien zu lokalen NSDAP-Funktionärsschichten, die das Wissen um das Handeln, Wirken und Wollen unterer Parteiamtsträger im sozialen Alltag kleinräumiger Gemeinschaften auf eine breitere empirische Grundlage stellen, bestätigen, variieren oder modifizieren könnten, bisher noch Mangelware" (29) sind, Handlungsrahmen und -raum der Politischen Leiter in Heidelberg in den Fokus. Hierbei ist ihm vor allem an der bislang wenig untersuchten Gruppe der Kreisamtsleiter sowie der tatsächlichen Aneignung des Raumes durch die Parteiinstitutionen gelegen; mit deren Bearbeitung gelingt es ihm, Forschungslücken zu schließen.
Rauschenberger kommt in seiner thematisch in drei Teile gegliederten Arbeit, die sich auf ein beachtliches Quellenkorpus stützt - so wurden, neben dem von Reichsorganisationsleiter Robert Ley herausgegebenen Organisationsbuch der NSDAP, nicht nur die historischen Adressbücher oder die lokale Presse Heidelbergs herangezogen, sondern vor allem archivalische Unterlagen von Ministerien, der Staatsanwaltschaft Heidelberg, der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie die Personal- und Spruchkammerakten der untersuchten Parteifunktionäre verwendet - zu den folgenden Kernaussagen: Heidelberg konnte durch den Aufstieg der NSDAP beziehungsweise das enorme Wachstum der 1922 dort erstmals gegründeten Ortsgruppe, durch das Engagement "Alter Kämpfer" und die verhältnismäßig hohe "Anfälligkeit" der Bevölkerung "für die nationalsozialistische Ideologie" bereits in der Zeit vor 1933 als eine "Hochburg des Nationalsozialismus" (49f.) gelten. Nach der "Machtergreifung" dann ließ sich eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Parteiorganisation feststellen, die mit einer räumlichen Ausbreitung einherging und dazu führte, dass die NSDAP praktisch überall im Stadtbild sichtbar ihre Dependancen bezog. Gerade letzteres wurde teilweise mittels der zwangsweisen Enteignung jüdischer Immobilienbesitzer realisiert. Die lokale politische Führungsschicht - von dieser hat Rauschenberger anhand von 51 Personen, darunter vor allem Kreisamtsleiter, ein vielschichtiges Sozialprofil erstellt, deren Biogramme sich vollzählig im Anhang des Buches befinden - bestand indes überwiegend aus "eingefleischte[n] Nationalsozialisten" (132), die den Geburtsjahrgängen 1880 bis 1910 angehörten, evangelisch waren, mehrheitlich jedoch zur NS-"Gottgläubigkeit" übertraten, eine höhere Schulbildung genossen hatten und der beruflichen Mittelschicht entstammten.
Rauschenberger leistet mit seinem gut lesbaren Buch zweierlei: einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte Heidelbergs im Nationalsozialismus und ein konzise analysiertes Fallbeispiel dafür, wie sich Struktur, Funktion und Aktion der schon Anfang der 1930er Jahre zur Massenpartei avancierten NSDAP mitsamt ihrer Repräsentanten in einer größeren Mittelstadt wie Heidelberg ausgestalteten.
Anmerkungen:
[1] Armin Nolzen: "In die Jahre gekommen. Eine Neuauflage der bislang einzigen Gesamtgeschichte der NSDAP von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker", in: literaturkritik.de, 7 (2009), https://literaturkritik.de/id/13208.
[2] Vgl. Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969.
[3] Zum Beispiel Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hgg.): "Volksgemeinschaft" als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u.a. 2013.
[4] Zum Beispiel Christina Arbogast: Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920-1960, München 1998.
[5] Zum Beispiel Jörg Schadt / Michael Caroli (Hgg.): Heidelberg unter dem Nationalsozialismus. Studien zu Verfolgung, Widerstand und Anpassung, Heidelberg 1985.
Mirjam Schnorr