Helen Pluckrose / James Lindsay: Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt - und warum das niemandem nützt. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reinhardus und Helmut Dierlamm, München: C.H.Beck 2022, 380 S., ISBN 978-3-406-78138-4, EUR 22,00
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Ende März 2022 lud die Ortsgruppe von Fridays For Future in Hannover die Sängerin Ronja Maltzahn von einem geplanten Auftritt kurzfristig aus. Als Grund führte sie an, dass die Musikerin Dreadlocks trage. Diese Frisur bei Weißen sei eine Form der kulturellen Aneignung. Auftreten dürfe sie nur, wenn sie sich ihre Rastas abschneide. Diese Epsiode ließe sich als lokale Skurrilität verbuchen, wenn sich dahinter nicht eine tiefere Problematik verbergen würde. Wie gehen westliche Gesellschaften mit dem Erbe der kolonialen Unterdrückung um? Wie weit kann und sollte die Sensibilität gehen? Diese Frage stellt sich nicht nur in Bezug auf den Kolonialismus, sondern auch im Hinblick auf Feminismus und Gender sowie allgemein die Identitätspolitik. Derartige Debatten kochen regelmäßig hoch und werden meist äußerst emotional ausgetragen.
Ihrem ideengeschichtlichen Ursprung und ihren konkreten Ausprägungen gehen Helen Pluckrose und Charles Lindsay in ihrem aktuellen Buch nach. Die beiden sind allerdings keine neutralen Beobachter, sondern selbst Aktivisten in der Auseinandersetzung. Zusammen mit Peter Boghossian reichten sie ab 2017 mehrere Fake-Artikel bei Zeitschriften aus dem Bereich der Gender-, Queer- und Critical Race Studies ein, um zu veranschaulichen, dass die (akademischen) Qualitätskriterien in jenen Bereichen erodiert seien. Es gelang ihnen, auch einige Beiträge zu publizieren, wodurch sie ihre Annahme bestätigt sahen. Nun fassen sie ihre weitergehenden Überlegungen und ihre Kritik zusammen; das Buch gliedert sich in zehn Kapitel.
In der Einleitung erläutern die Autoren ihre Beweggründe für die Publikation: "Der zunehmende Einfluss der Social-Justice-Bewegung auf die Gesellschaft ist mittlerweile unübersehbar, besonders hervorzuheben sind hierbei 'Identitätspolitik' und 'politische Korrektheit'. Beinahe jeden Tag lesen wir von jemanden, der entlassen, 'gecancelt' oder in den sozialen Medien gemobbt wurde, weil er oder sie etwas gesagt oder getan hat, das als sexistisch, rassistisch oder homophob interpretiert werden könnte." (11) Dieser Tendenz wollen sie entgegentreten, sowohl philosophisch als aus politisch. Als Mittel dienen ihnen dazu der Liberalismus, also der freie Austausch und der offene, produktive Streit.
Um den zunehmend autoritären Entwicklungen zu begegnen, müsse zunächst ihre ideengeschichtliche Genese offengelegt werden. Deshalb handeln Pluckrose und Lindsay im ersten Kapitel den Postmodernismus ab, der sie ins Frankreich der 1960er Jahre zurückführt. Etwas oberflächlich referieren sie die Grundlagen des Denkens von Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-Francois Lyotard und anderen Philosophen. Ihre Theorien hätten dazu geführt, das Suchen nach einer objektiven Wahrheit aufzugeben, das Individuum zugunsten von Gruppenidentitäten zu beseitigen und sich obsessiv mit der Sprache zu beschäftigen, um omnipräsente Machtverhältnisse zu dekonstruieren.
Die folgenden Kapitel behandeln die einzelnen Richtungen postmoderner Theorien, also den Postkolonialismus, die Queer-Theorie, die Intersektionalität, den Feminismus und die Gender Studies sowie die Disability- und Fat-Studies. Sie erläutern jeweils die ihrer Ansicht nach relevanten Grundlagen und untermauern ihre Position mit Zitaten. Alle genannten Richtungen hätten zu problematischen, teils gefährlichen Entwicklungen im akademischen Bereich und zu einer aktivistischen Wissenschaft geführt. Ein Widerspruch werde nicht mehr geduldet, sondern ein autoritativer Anspruch formuliert. Diese Tendenzen seien aber nicht mehr auf gewisse Fakultäten in angelsächsischen Eliteuniversitäten begrenzt, sondern entfalteten mittlerweile eine Wirkung darüber hinaus: "Die Theorie ist aus der akademischen Welt ausgebrochen und hat inzwischen einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Kultur gewonnen." (247) Obwohl die Grundlagen dieser neuen Denkrichtung obskur seien und die meisten Menschen sich nie mit ihr beschäftigten, seien alle mehr oder weniger direkt von ihr betroffen. Die Studierenden, die sie propagierten, würden schließlich früher oder später außerhalb der Universitäten in ganz unterschiedlichen Bereichen wirken. Pluckrose und Lindsay führen einige Beispiele von Personen an, die entlassen wurden oder einem Shitstorm in den sozialen Medien ausgesetzt waren, weil sie Ansichten vertraten, die als transphob, sexistisch oder rassistisch gewertet wurden.
Als Gegengift und Alternative zur Social-Justice-Bewegung propagieren sie den "Liberalismus ohne Identitätspolitik". Auch er sei nicht perfekt, aber dennoch die stärkste zur Verfügung stehende Waffe, um zu einem Diskurs zu kommen, der auf den Prinzipien der Vernunft und der wissenschaftlichen Evidenz basiert. Trotz des Anspruchs der Postmoderne trage sie nicht zur Emanzipation des Individuums bei. Vielmehr stärke sie die Opfer- und Gruppenidentitäten. Damit sei sie näher am Kulturrelativismus der extremen Rechten, als sie sich eingestehe.
Unbestreitbar behandeln Pluckrose und Lindsay ein Thema, das in den letzten Jahren mehr und mehr an Relevanz gewonnen hat. In vielen Punkten argumentieren sie aber allzu grobschlächtig. Bisweilen hat es den Anschein, dass sie bewusst einen Popanz konstruieren, der eine Differenzierung kaum noch zulässt. Auch scheint die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit, die sie der Postmoderne zuschreiben, aus Sicht des Rezensenten zu groß. Ihre grundlegenden Punkte haben zweifellos ihre Berechtigung, aber die gestiegene gesellschaftliche Sensibilität gegenüber vielfältigen Formen der Macht- und Diskriminierungsformen ließe sich doch auch als Fortschritt interpretieren. Außerdem setzen sie der Social-Justice-Theorie einen allzu naiven Wissenschafts- und Aufklärungsbegriff entgegen, der nicht auf die ihnen innewohnende Widersprüchlichkeit und Dialektik reflektiert. Die Autoren wählen durchweg den schweren Säbel, wo das Florett angemessener erschiene.
Sebastian Voigt