Michael Wolffsohn: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus, Freiburg: Herder 2024, 96 S., ISBN 978-3-451-07239-0, EUR 12,00
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Michel Friedman: Judenhass. 7. Oktober 2023, 4. Auflage, Berlin: Berlin Verlag 2024, 103 S., ISBN 978-3-8270-1515-0, EUR 12,00
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Julia Bernstein: Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen Handeln Vorbeugen, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2021
Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844-1939), Hamburg: VSA-Verlag 2022
Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt, Berlin: Berlin Verlag 2020
Anne Lisa Carstensen / Sabine Hess / Lisa Riedner u.a.: Solidarität - Kooperation - Konflikt. Migrantische Organisierungen und Gewerkschaften in den 1970/80er Jahren, Hamburg: VSA-Verlag 2022
Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Wyrwa, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2021
Martin Endreß / Christian Jansen u.a. (Hgg.): Karl Marx im 21. Jahrhundert. Bilanz und Perspektiven, Frankfurt/M.: Campus 2020
Seit dem brutalen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, als die islamistische Terrororganisation 1200 Juden ermordete und über 200 Menschen in den Gaza-Streifen entführte, sind die antisemitischen Straftaten in Deutschland massiv angestiegen. Sie reichen von verbotenen Parolen auf propalästinensischen Demonstrationen, die die Auslöschung Israels fordern, über Anschläge auf jüdische Einrichtungen bis hin zu körperlichen Angriffen auf Juden.
Kurz darauf haben der Historiker Michael Wolffsohn, emeritierter Professor an der Universität der Bundeswehr in München-Neubiberg, und der bekannte Publizist, Jurist und Philosoph Michel Friedman jeweils einen Band über die Gegenwart des Judenhasses und ihre Reaktionen auf das Massaker vorgelegt. Dabei handelt es sich nicht um wissenschaftliche Werke, sondern um politische Interventionen von zwei jüdischen Intellektuellen. Darin kommen die persönliche Betroffenheit und der Schock über den Terroranschlag ebenso zum Ausdruck wie das Entsetzen und die Enttäuschung über die mangelnde Solidarität und das weitgehende Schweigen eines großen Teils der deutschen Bevölkerung.
Wolffsohn dokumentiert in dem Band zwei Reden, eine gehaltene und eine ungehaltene. Er war eingeladen, am 9. November die Gedenkrede im Berliner Abgeordnetenhaus anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht zu halten. Eine davon hatte er bereits vor dem 7. Oktober geschrieben. Sie konnte und wollte er nach der "Blut- und Mordorgie" (17) nicht mehr in dieser Form halten und verfasste eine neue.
In einer Einleitung beschreibt er zunächst, wie der Antisemitismus wieder zur Eintrittskarte in die europäische Gesellschaft geworden ist. Der Judenhass komme aus verschiedenen politischen Richtungen, klassischerweise von rechts, aus der islamischen Ecke, aber auch vermehrt aus der Linken, besonders aus dem Kulturbetrieb. Dabei kritisiert er auch andere jüdische Intellektuelle, die ihre Herkunft als "Entréebillet" (21) nutzen, um sich in die gesellschaftliche Debatte einzumischen, ebenso wie Personen, die nach halachischer Tradition keine Juden sind, also keine matrilineare jüdische Abstammung vorzuweisen haben, aber öffentlich als Juden auftreten, namentlich die beiden Literaturschaffenden Eva Menasse und Max Czollek. Damit bezieht Wolffsohn in der hitzig geführten Diskussion darüber, wer jüdisch ist und wer nicht, eine konservative Position ein.
In seiner nichtgehaltenen Rede schildert Wolffsohn die Flucht seiner Familie aus Deutschland, kritisiert die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus und unterstreicht die Bedeutung Israels. Der Staat sei "für die Juden, für alle Juden, erstmals seit rund 2000 Jahren eine Lebensversicherung, die Lebensversicherung". (39) Er fordert außerdem eine Veränderung der ritualisierten deutschen Gedenk- und Erinnerungskultur. Sie werde der pluraler werdenden deutschen Gesellschaft nicht gerecht und gedenke ausschließlich der ermordeten Juden. Damit gehe sie an den gegenwärtigen Erfordernissen vorbei. Dieser Fokus führe nicht selten zur mangelnden Empathie gegenüber den heute lebenden Juden und dem jüdischen Staat: "Die toten Juden werden beweint, allerdings lebende und wehrhafte Juden meist kritisiert. Jüdische Wehrhaftigkeit gehört nicht in Programm des traditionellen Rollenspiels". (50)
Schockiert, aber nicht verwundert zeigt sich Wolffsohn über die antijüdischen Hasstiraden an westlichen Eliteuniversitäten. Schließlich habe die Geschichte immer wieder deutlich gemacht, dass formale Bildung nicht vor Judenhass schütze. Vielmehr entpuppten sich gerade Intellektuelle als die vehementesten Judenfeinde, eine Tradition, die sich bis in die Aufklärung zurückverfolgen lasse. Heutzutage manifestiere sich der Antisemitismus oft als Hass auf den jüdischen Staat, wenn etwa auf Demonstrationen zugleich "Tod den Juden" und "Tod Israel" skandiert werde, wie 2014 in Berlin auf dem Kurfürstendamm geschehen. Folglich gehörten Judenhass und Israelhass zusammen. Die Hauptgefahr in dieser Hinsicht gehe heute von drei, sehr unterschiedlichen Gruppierungen aus, die sich aber in diesem einen Punkt träfen: der extremen Rechten, der radikalen Linken und der islamischen Fundamentalisten. Ihre jeweilige Spezifik führt er folgenden knapp aus.
Die gegenwärtige Situation für Juden in Deutschland beurteilt Wolffsohn ambivalent. Einerseits gelte: "Unsere Bundesrepublik ist das beste Deutschland, das es je gab". (67) Die Zukunft sei jedoch ungewiss die Krise für Juden verschärfe sich. Deutschland stehe an einer Wegscheide. Es bleibe zu hoffen, dass es die richtige Entscheidung treffe.
Im abschließenden Teil geht der Autor auf Handlungsstrategien zur Bekämpfung des Judenhasses ein und ist generell sehr skeptisch, ob er jemals überwunden werden kann. Was nicht helfe, sei ritualisierte Phrasendrescherei an Gedenktagen über die Lehren aus dem Nationalsozialismus. Auch die institutionalisierte Antisemitismusforschung, allen voran an der TU Berlin, hält er für wenig hilfreich. Ferner helfen Antisemitismusbeauftragte allerorten nicht wirklich weiter. Bildung und aufklärerische Wissensvermittlung seien ebenso keine Allheilmittel, zumal Juden andere Lehren aus der Vergangenheit zögen als Nichtjuden. Staatliches Handeln inklusive Repression gegen Judenhass sei notwendig, werde das Problem aber auch nicht beseitigen können. Jüdisches Leben werde eine "Existenz auf Widerruf" (86) bleiben, so tragisch das sei. Deshalb appelliert Wolfssohn am Schluss an jeden einzelnen Leser: "Schaut auf unsere Wirklichkeit! Judenpolitisch ist sie ein Albtraum. [...] Selbsterkenntnis ist der Anfang jeder Besserung". (94)
Einen anderen, ebenfalls persönlichen Zugriff wählt Michel Friedman. Sein Buch gliedert sich 18 kleine Abschnitte, die unterschiedliche Aspekte des Judenhasses behandeln. Sechs davon sind fiktive Briefe, beispielsweise an die politischen Entscheidungsträger, an die Gleichgültigen oder an die Christen. Der Autor behandelt neben seiner eigenen Geschichte als in Deutschland aufgewachsener Sohn von Holocaust-Überlebenden auch immer wieder das Fortleben des Judenhasses in der Bundesrepublik.
Frappierend war für ihn die Reaktion nach dem 7. Oktober 2023. Bereits seit einiger Zeit habe sich abgezeichnet, dass der Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausformungen angestiegen ist: "Das alles führt dazu, dass nach dem Überfall der Hamas die erwartete Empathie mit Jüdinnen und Juden in der Mehrheitsgesellschaft nicht sichtbar geworden ist. Ja, es gibt solidarische Gesten. Sie sind die Ausnahme, nicht die Regel". (13) Der Judenhass äußere sich seitdem wieder ganz offen und brutal, auf der Straße, in den sozialen Medien und in zahlreichen Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Bei vielen Juden sei die Angst und Unsicherheit wieder da, die Frage zurückgekehrt, ob sie in Deutschland noch sicher leben könnten und wo ihr Platz in der Gesellschaft sei oder ob sie überhaupt dazugehörten. Auch Friedman begreift den Umgang mit der aktuellen Situation als fundamental für die weitere Entwicklung: "Wir stehen deshalb an einem Scheidepunkt, weil es nicht nur um das Judentum geht, sondern um die Demokratie und Freiheit, um die Freiheit der vielen, um unser aller Freiheit". (25) Der Kampf gegen den Judenhass sei ein Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft, für ihre Resilienz gegen antidemokratische Tendenzen.
In dieser Hinsicht stehe es nicht gut um die deutsche Gesellschaft, weil der Antisemitismus schon seit einiger Zeit vor dem Massenmord der Hamas deutlich zugenommen habe. Er beschränke sich auch keineswegs auf die politischen Ränder, sondern erlebe ebenso in gutbürgerlichen Milieus einen Aufschwung. Nicht zuletzt habe er bei Muslimen deutlich zugenommen. Bei Rechtsextremen lebe er fort und bei Linken tauche er oftmals in Form einer antikolonial verbrämten Israelkritik auf.
Diese Bedrohung wirke sich gravierend auf das Leben der Juden aus: "Ich bemerke schon seit einigen Jahren, dass sich das Selbstverständnis des jüdischen Lebens in Deutschland verändert". (88) Genau deshalb appelliert er an die Politik, an die Entscheidungsträger sich nicht mit einer wohlfeilen ritualisierten Erinnerungs- und Gedenkkultur zufrieden zu geben, sondern ihren Worten endlich Taten folgen zu lassen und den Judenhass in all seinen Erscheinungsformen konsequent zu bekämpfen. Das Buch endet mit einem "Brief an meine Söhne" (95), in der Friedman darlegt, dass leider auch sie aufgrund der Persistenz des Antisemitismus in ihrem Leben immer wieder mit Hass konfrontiert sein werden. Davon sollten sie sich aber nicht abhalten lassen zu leben, das Leben zu genießen und zu feiern.
Die Bücher von Wolffsohn und Friedman sind wichtige Reaktionen deutsch-jüdischer Intellektueller auf das Massaker am 7. Oktober 2023. Aus ihnen spricht die Empörung über die ausbleibende Empathie für die ermordeten Juden sowohl international, aber auch in einem großen Teil der deutschen Gesellschaft. Sie machen auf ihre Art die Verunsicherung und die Angst deutlich, die seitdem unter Juden in Deutschland herrscht und wie in Zukunft jüdisches Leben dort aussehen wird. Insofern sind sie ernüchternde Bestandsaufnahmen der Gegenwart in Deutschland aus jüdischer Perspektive, die gerade Nichtjuden ernst nehmen sollten.
Sebastian Voigt