Rezension über:

Ina Ulrike Paul (Hg.): Weltwissen. Das Eigene und das Andere in enzyklopädischen Lexika des langen 18. Jahrhunderts (= Wolfenbütteler Forschungen; 126), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 320 S., ISBN 978-3-447-11467-7, EUR 58,00
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Rezension von:
Doris Gruber
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Doris Gruber: Rezension von: Ina Ulrike Paul (Hg.): Weltwissen. Das Eigene und das Andere in enzyklopädischen Lexika des langen 18. Jahrhunderts, Wiesbaden: Harrassowitz 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/35310.html


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Ina Ulrike Paul (Hg.): Weltwissen

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Der (europäische) Enzyklopädismus und die damit einhergehende Zirkulation, Konsolidierung und der Wandel von Wissen fanden in den letzten Jahrzehnten zunehmend Beachtung. Wichtige Impulse lieferten etwa die Publikationen von Robert Darnton, neue digitale Erschließungsmethoden oder die steigende Bedeutung von Wikipedia. [1] Der vorliegende Band untersucht das Phänomen enzyklopädischer Lexika im langen 18. Jahrhundert über sprachliche und nationale Grenzen hinweg. Er versammelt die um vier Beiträge ergänzten Ergebnisse einer Tagung, die gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2013 stattfand und das von der Herausgeberin des Bandes geleitete Forschungsprojekt "Alle Kreter Lügen". Nationale Stereotypen in Enzyklopädien, Universal- und Konversationslexika Europas vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert abschloss.

Auf Vorwort und umfangreiche Einleitung folgen 14 in zwei geographische Sektionen - Asien und Europa - gegliederte Beiträge. Die erste Sektion mit drei Beiträgen beschäftigt sich mit der chinesischen (Yihong Hu) und arabischen Tradition (Stefan Reichmuth) sowie dem Asienbild im Universal-Lexicon (Tobias Winnerling). Die zweite, deutlich längere Sektion zu Europa besteht aus elf Beiträgen. Neben dem deutschsprachigen Raum rücken Italien, Frankreich, die Niederlande, Polen, Russland, Schweden und Ungarn in den Fokus. Allen Beiträgen ist ein englischer Abstract vorangestellt und mit einer englischsprachigen Ausnahme sind die Texte auf Deutsch verfasst. Autor:innenviten und Personenregister runden den Band ab.

Ein roter Faden ist klar erkennbar und die Einleitung kann als Einführung zur europäischen Enzyklopädik gelesen werden. Ina Ulrike Paul beschreibt Enzyklopädien als Produkt der europäischen Aufklärung, "Speichermedien" und "Ordnungsstrategie für das gedruckte Wissen". Ihr Entstehen sei aus der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und der damit einhergehenden zunehmenden Fülle "publizierter Erkenntnisse" erwachsen (11f.). Der eigentliche Beginn der nationalsprachlichen enzyklopädischen Lexika wird im späten 17. Jahrhundert angesetzt und die Rolle der Enzyklopädien bezüglich des aufklärerischen Projekts der Popularisierung von Allgemeinwissen hervorgehoben. Die Herausgeberin betont zudem, dass außerhalb Europas, etwa mit den Leishu in China, deutlich längere lexikale Traditionen bestanden, die zwar ein universelles Bestreben nach Wissenssammlungen belegten, aber nur bedingt mit der europäischen Tradition verglichen werden könnten.

Das dem Titel entnommene "Eigene" und "Andere" zeigt sich im Band in zweierlei Hinsicht. Einerseits durch nationale Stereotype, die sich unter den Lemmata einzelner Länder verdichtet präsentieren und immer wieder angesprochen werden. Andererseits durch die Leuchtkraft erfolgreicher Lexika. Innerhalb Europas dienten vor allem jene aus dem französisch- und deutschsprachigen Raum wiederholt als Blaupausen bzw. Steinbrüche für nachfolgende Werke. Die Lexika des 18. Jahrhunderts stellten also teilweise 'bloß' Übersetzungen und/oder Kompilationen vorangehender Werke dar. Diese Transformationsprozesse gingen in der Regel aber mit inhaltlichen Änderungen einher, um die Darstellungen auf das anvisierte Publikum zuzuschneiden, wie in nahezu allen Beiträgen mehr oder weniger stark betont wird.

Die großen Stärken des Bandes sind die internationale Ausrichtung sowie die Multiperspektivität. Ein guter Teil der Beiträge bespricht die Situation in einzelnen (National-)Sprachen oder einzelne lexikalische Werke, oftmals ausgehend von Einzelpersonen. Auch Projekte, die scheiterten, werden nicht ausgespart (Christoph Leiska; Gabriella Rovagnati). In der Zusammenschau ergeben sich weitere vielfältige Erkenntnisse. Die Bedeutung von Paratexten und (Titel-)Bildern wird angesprochen (Ina Ulrike Paul) und Abhängigkeiten zwischen den Enzyklopädien und anderen Medienformen (Susanne Greilich; Hans-Jürgen Lüsebrink) werden betont. Nicht zuletzt wird deutlich, dass persönliche Netzwerke und der Einsatz Einzelner das Entstehen so mancher lexikalischer Projekte innerhalb wie außerhalb Europas beförderten (Yihong Hu; Orsolya Kereszty und Katalin Fehér; Małgorzata Morawiec; Stefan Reichmuth; Michael Schippan).

Ebenso spannend und zum Teil methodisch besonders innovativ sind jene Beiträge, die Überblicke zu bestimmten Diskursen bzw. Themenkomplexen in einzelnen oder verschiedenen Lexika bieten. Hier werden auch tieferreichende Erkenntnisse zu stereotypen Länderdarstellungen präsentiert. Mithilfe eines diskursanalytischen Zugriffs auf das Spanienbild kann Debora Gerstenberger etwa die Deutungsmacht der Lexika sowie die Trägheit des darin tradierten Wissens aufzeigen. In diesem wie im Beitrag von Kai Losträter wird die große epistemische Bedeutung antiker Autoritäten deutlich. Tobias Winnerling unterstreicht stereotype Ausformungen beim Blick auf Asien im Universal-Lexikon mittels der historischen Netzwerkanalyse sowie Iwan Michaelangelo d'Aprile und Ines Prodöhl die Rolle des Konversationslexikons von Brockhaus für den aktiven politischen Diskurs.

Wer will monieren, dass eine kleinmaschigere Gliederung des Bandes die Lesbarkeit erleichtert hätte, oder dass dem Waren- und Gebrauchscharakter der Lexika sowie der Rolle ihres Publikums mehr Raum gewidmet hätte werden können? Letztere Fragen werden bestimmt von künftigen Forschungen stärker in den Blick genommen. Auffällig erscheint der Rezensentin jedoch die weitgehende Abwesenheit von Frauen im Band. Ihre sicherlich den Männern gegenüber stark untergeordnete, aber nicht irrelevante Bedeutung bei der Produktion, Zirkulation und Rezeption der Enzyklopädien hätte zumindest angesprochen werden können, wenn überblicksartig von "Akteuren" die Rede ist (40). Luise Adelgunde Gottsched wird als einzige aktiv an der der Produktion der Enzyklopädien beteiligte Frau genannt (37, 258). Michael Schippan erwähnt Zarinnen als Förderinnen russischer Projekte (256, 260, 267) und in einigen Beiträgen sind Frauen zumindest als Leserinnen (88, 284) oder im genderneutral gewählten Begriff Publikum (Debora Gerstenberger; Susanne Greilich) präsent, auch wenn ihre Rolle nicht reflektiert wird.

Der Sammelband zeigt anschaulich, dass nationalsprachliche Enyzklopädieprojekte des 18. Jahrhunderts zwar durch nationale Interessen geprägt wurden, aber keineswegs aus in sich geschlossenen Silos erwuchsen. Die Bedeutung vielfältiger transnationaler Abhängigkeiten und Transferprozesse, wie Kompilation, Übersetzung und persönliche Netzwerke, wird betont. Die beiden Beiträge zur asiatischen, im Falle Chinas deutlich älteren Tradition, 'enzyklopädischer Wissensordnung' erweitern den Horizont. Dem qualitativ durchgehend hochwertigen Band sind viele anschließende Studien zu wünschen.


Anmerkung:

[1] Insbesondere Robert Darnton: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie 1775-1800, Cambridge 1979; vgl. auch aktuelle Forschungsprojekte wie Edition Numérique, Collaborative et Critique de l'Encyclopédie (ENCCRE), http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/, Aufruf 11.07.2022; oder Übersetzungsdimensionen des französischen Enzyklopädismus im Aufklärungszeitalter (1680-1800), geleitet von Susanne Greilich und Hans-Jürgen Lüsebrink, http://encyclopaedias.uni-regensburg.de/, Aufruf 11.07.2022.

Doris Gruber